è Gedanken zum Thema  „Kriegsgefangene & Fremdarbeiter in Nottuln (1940-1945)“

 

è Das Zusammenleben einiger hundert Menschen aus dem Ausland mit der lokalen Bevölkerung einer münsterländischen Gemeinde dieser Zeit beinhaltet – auch und gerade unter Kriegsverhältnissen - alle denkbaren Lebens- und Erfahrungsformen: Solidarität, Fairness, Gleichgültigkeit, Liebe, Hass, Missbrauch oder Gewalt.

 

è Zwischen den Familien, die ausländische Arbeitskräfte (Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter oder sogar „Freiwillige“ – auch die gab es!) beschäftigten oder sogar beherbergten, betreuten oder lenkten, entwickelten sich je nach Lage und Befindlichkeit, Persönlichkeit, Haltungen oder - ganz einfach - persönlicher Gefühlslage Beziehungen unterschiedlichster Ausprägung. Es entstanden auch in Nottuln Freundschaften, die z.T. über Jahrzehnte nach dem Krieg noch gepflegt wurden. Beispiele sind leicht zu belegen. Gegensätzliche Situationen sind ebenfalls bekannt.

 

è Ganz überwiegend – folgt man den Berichten glaubhafter Zeitzeugen – ist die Behandlung der Mitmenschen unter diesen Zeitumständen als korrekt anzusehen. Das – damals oft verdeckte – Verhaltens-Motive ist – neben grundsätzlicher menschlicher Haltung – klar: Man hatte mit zunehmender Kriegszeit selbst Familienangehörige in der Situation der Gefangenschaft oder der Zwangsarbeit auf der Gegenseite. Dieser Gedanke wird in Gesprächen immer wieder zitiert.

 

è Persönliches Versagen, Missbrauch und Gewalt gegenüber den ausländischen Arbeitskräften hat es aber auch in unseren Dörfern und Bauerschaften zweifelsohne gegeben. Es gibt gut bezeugte Verbrechen bis hin zu mindestens einer öffentlicher Hinrichtung.

 

è Vollends problematisch wurde die Situation in den Monaten April bis August 1945, als auch im Münsterland  mit dem Zusammenbruch der NS-Herrschaft die politischen und gesellschaftlichen Ordnungsmuster einstürzten.  Das große Lager auf dem Baumberg mit zeitweise 1800  untergebrachten ehem. Kriegsgefangenen, die eben nicht aus Nottuln kamen, wurde vielfach Ausgangspunkt problematischer Vorgänge.

 

è In den Monaten einer gewissen „Rechtlosigkeit“ hat es zahlreiche Übergriffe befreiter Zwangsarbeiter (DP’s) auf die lokale Bevölkerung gegeben. Die Überfälle von Gruppen ehem. Gefangener z.B. auf Bauerschaften und Einzel-Höfe brachten eine Serie von - in Einzelfällen vielleicht noch  erklärlicher -, aber insgesamt ebenso unentschuldbarer Gewalttaten. Die englischen Truppen waren nur bedingt in der Lage, die deutsche Bevölkerung, die weitestgehend unbewaffnet war, zu schützen. Es ist zu teils unglaublichen Gewalttaten gekommen. Viele Vorgänge sind übrigens nie amtlich registriert oder gar dokumentiert worden, bleiben vielmehr im weitgehend verschwiegenen Wissen von Großfamilien oder Nachbarschaften. Die besondere Rolle der vielen Vergewaltigungen – übrigens schon beginnend mit dem Einmarsch der alliierten Truppen -  darf nicht übersehen werden.

 

è Aus den Ereignissen des Sommers 1945 resultiert die wesentliche Sicht auf das in Rede stehende Thema. Durch die Niederlage im Krieg sah man sich in Haftung genommen, auch wenn man sich persönlich – vielleicht sogar mit Recht – als unschuldig ansah. Die von der einheimischen Bevölkerung empfundene Rechtlosigkeit, das Ausgeliefertsein, die alltägliche Bedrohung prägen die Beurteilung des gesamten Themenfeldes bis heute. Erst mit dem Abtransport der DP’s, der bis Ende August 1945 abgeschlossen war, stabilisierte sich die Situation. Was übrigens diesen Menschen z.B. in Sowjet-Russland dann passierte, steht auf einem besonderen Blatt.

 

è Mit der Ankunft der Flüchtlinge und Vertriebenen ab Sommer 1945, die die Evakuierten aus den von Bomben bedrohten Städten „ablösten“, kam neue, dauerhafte Probleme. Deren Integration bildete von der Größenordnung und den Anforderungen her eine weit größere Herausforderung als die Evakuierten oder die ausländischen Kriegsgefangenen und Fremdarbeiter der Jahre 1940/45. Mit diesen Anforderungen, dem Wieder-Aufbau der kommenden Jahrzehnte und der weltpolitischen Konfrontation im „Kalten Krieg“ war eine offene Auseinandersetzung mit den Ereignissen der Jahre 1933 – 1945 weitgehend verstellt.

 

è Selbst wenn die Leute in den Baumbergen – auch mit Blick auf die Wahlergebnisse bis 1933 – kaum als überzeugte Unterstützer der Nazis angesehen werden können, hat der vermeintliche Zwang zu einer „national geschlossenen“ Politik nach dem Krieg die öffentliche Beschäftigung mit der NS-Zeit lange gebremst. Lokale Eliten sind 1930, 1940, 1950, 1960 oder noch später sogar in den Personen identisch. Das ist soziologisch aufgrund der Gesellschaftsstruktur erklärlich. Man wusste zwar um Personen und Situationen, schwieg aber meistens und blockierte so auch weitere Aufklärung und offene politische Gestaltung.

 

è Angesichts der erkennbaren Traumata ist jede Erörterung behutsam zu führen. Wer die Ereignisse der Jahre 1940 – 1945 (... und speziell die des Sommers 1945) diskutiert, läuft Gefahr, schnell in das Muster von Anklage und Verurteilung zu verfallen. Er muss vor allem die Verhältnisse dieser Jahre berücksichtigen, die mit den heute bei uns herrschenden nicht mehr zu vergleichen sind. Die Nottulner wussten z.B. genau, wie es ihrem Mitbürger Bernard Heinrich Bussmann gnt. Nährding ergangen war. Er wurde wegen kritischer Äußerungen zum Krieg in das KZ Buchenwald verbracht und ist dort 1940 umgekommen.

 

è Falsche Ansprache und falsche Symbolik können m.E. verheerend wirken. Vor irgendwelchen – politisch noch so korrekten - Aktionismen muss die fachwissenschaftliche Aufarbeitung des Komplexes stehen. Das Projekt des Kreises Coesfeld weist m.E. den richtigen Weg. Auch im Gemeindearchiv warten Quellen auf die fachgerechte Aufarbeitung und Publizierung. Für möglich halte ich es, die in einzelnen Familien vorhandenen Kontakte zu noch lebenden Kriegsgefangenen als positives Aktivpotential einzusetzen. Es muss auch versucht werden, in  - auf Wunsch der Beteiligten vertraulichen  - Gesprächen Aussagen von Zeitzeugen zu gewinnen, die ggf. mit Sperrfristen versehen archiviert werden können.

 

è Grundsätzlich: Es darf keine Politik stattfinden, die Menschen – egal welcher Herkunft - in Extremsituationen führt, wie sie damals herrschten.

Nottuln, 03. März 2002                                                                                                Hans-Peter Boer