è Das Zusammenleben einiger hundert Menschen aus dem Ausland mit der
lokalen Bevölkerung einer münsterländischen Gemeinde dieser Zeit beinhaltet
– auch und gerade unter Kriegsverhältnissen - alle denkbaren Lebens- und
Erfahrungsformen: Solidarität, Fairness, Gleichgültigkeit, Liebe, Hass,
Missbrauch oder Gewalt.
è Zwischen den Familien, die ausländische Arbeitskräfte
(Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter oder sogar „Freiwillige“ – auch die gab
es!) beschäftigten oder sogar beherbergten, betreuten oder lenkten,
entwickelten sich je nach Lage und Befindlichkeit, Persönlichkeit, Haltungen
oder - ganz einfach - persönlicher Gefühlslage Beziehungen unterschiedlichster
Ausprägung. Es entstanden auch in Nottuln Freundschaften, die z.T. über
Jahrzehnte nach dem Krieg noch gepflegt wurden. Beispiele sind leicht zu
belegen. Gegensätzliche Situationen sind ebenfalls bekannt.
è Ganz überwiegend – folgt man den Berichten glaubhafter Zeitzeugen
– ist die Behandlung der Mitmenschen unter diesen Zeitumständen als korrekt
anzusehen. Das – damals oft verdeckte – Verhaltens-Motive ist – neben
grundsätzlicher menschlicher Haltung – klar: Man hatte mit zunehmender
Kriegszeit selbst Familienangehörige in der Situation der Gefangenschaft oder
der Zwangsarbeit auf der Gegenseite. Dieser Gedanke wird in Gesprächen immer
wieder zitiert.
è Persönliches Versagen, Missbrauch und Gewalt gegenüber den ausländischen
Arbeitskräften hat es aber auch in unseren Dörfern und Bauerschaften
zweifelsohne gegeben. Es gibt gut bezeugte Verbrechen bis hin zu mindestens
einer öffentlicher Hinrichtung.
è Vollends problematisch wurde die Situation in den Monaten April bis
August 1945, als auch im Münsterland mit
dem Zusammenbruch der NS-Herrschaft die politischen und gesellschaftlichen
Ordnungsmuster einstürzten. Das
große Lager auf dem Baumberg mit zeitweise 1800
untergebrachten ehem. Kriegsgefangenen, die eben nicht aus Nottuln kamen,
wurde vielfach Ausgangspunkt problematischer Vorgänge.
è In den Monaten einer gewissen „Rechtlosigkeit“ hat es zahlreiche Übergriffe
befreiter Zwangsarbeiter (DP’s) auf die lokale Bevölkerung gegeben. Die Überfälle
von Gruppen ehem. Gefangener z.B. auf Bauerschaften und Einzel-Höfe brachten
eine Serie von - in Einzelfällen vielleicht noch
erklärlicher -, aber insgesamt ebenso unentschuldbarer Gewalttaten. Die
englischen Truppen waren nur bedingt in der Lage, die deutsche Bevölkerung, die
weitestgehend unbewaffnet war, zu schützen. Es ist zu teils unglaublichen
Gewalttaten gekommen. Viele Vorgänge sind übrigens nie amtlich registriert
oder gar dokumentiert worden, bleiben vielmehr im weitgehend verschwiegenen
Wissen von Großfamilien oder Nachbarschaften. Die besondere Rolle der vielen
Vergewaltigungen – übrigens schon beginnend mit dem Einmarsch der alliierten
Truppen - darf nicht übersehen
werden.
è Aus den Ereignissen des Sommers 1945 resultiert die wesentliche Sicht
auf das in Rede stehende Thema. Durch die Niederlage im Krieg sah man sich in
Haftung genommen, auch wenn man sich persönlich – vielleicht sogar mit Recht
– als unschuldig ansah. Die von der einheimischen Bevölkerung empfundene
Rechtlosigkeit, das Ausgeliefertsein, die alltägliche Bedrohung prägen die
Beurteilung des gesamten Themenfeldes bis heute. Erst mit dem Abtransport der
DP’s, der bis Ende August 1945 abgeschlossen war, stabilisierte sich die
Situation. Was übrigens diesen Menschen z.B. in Sowjet-Russland dann passierte,
steht auf einem besonderen Blatt.
è Mit der Ankunft der Flüchtlinge und Vertriebenen ab Sommer 1945, die
die Evakuierten aus den von Bomben bedrohten Städten „ablösten“, kam neue,
dauerhafte Probleme. Deren Integration bildete von der Größenordnung und den
Anforderungen her eine weit größere Herausforderung als die Evakuierten oder
die ausländischen Kriegsgefangenen und Fremdarbeiter der Jahre 1940/45. Mit
diesen Anforderungen, dem Wieder-Aufbau der kommenden Jahrzehnte und der
weltpolitischen Konfrontation im „Kalten Krieg“ war eine offene
Auseinandersetzung mit den Ereignissen der Jahre 1933 – 1945 weitgehend
verstellt.
è Selbst wenn die Leute in den Baumbergen – auch mit Blick auf die
Wahlergebnisse bis 1933 – kaum als überzeugte Unterstützer der Nazis
angesehen werden können, hat der vermeintliche Zwang zu einer „national
geschlossenen“ Politik nach dem Krieg die öffentliche Beschäftigung mit der
NS-Zeit lange gebremst. Lokale Eliten sind 1930, 1940, 1950, 1960 oder noch später
sogar in den Personen identisch. Das ist soziologisch aufgrund der
Gesellschaftsstruktur erklärlich. Man wusste zwar um Personen und Situationen,
schwieg aber meistens und blockierte so auch weitere Aufklärung und offene
politische Gestaltung.
è Angesichts der erkennbaren Traumata ist jede Erörterung behutsam zu führen.
Wer die Ereignisse der Jahre 1940 – 1945 (... und speziell die des Sommers
1945) diskutiert, läuft Gefahr, schnell in das Muster von Anklage und
Verurteilung zu verfallen. Er muss vor allem die Verhältnisse dieser Jahre berücksichtigen,
die mit den heute bei uns herrschenden nicht mehr zu vergleichen sind. Die
Nottulner wussten z.B. genau, wie es ihrem Mitbürger Bernard Heinrich Bussmann
gnt. Nährding ergangen war. Er wurde wegen kritischer Äußerungen zum Krieg in
das KZ Buchenwald verbracht und ist dort 1940 umgekommen.
è Falsche Ansprache und falsche Symbolik können m.E. verheerend wirken.
Vor irgendwelchen – politisch noch so korrekten - Aktionismen muss die
fachwissenschaftliche Aufarbeitung des Komplexes stehen. Das Projekt des Kreises
Coesfeld weist m.E. den richtigen Weg. Auch im Gemeindearchiv warten Quellen auf
die fachgerechte Aufarbeitung und Publizierung. Für möglich halte ich es, die
in einzelnen Familien vorhandenen Kontakte zu noch lebenden Kriegsgefangenen als
positives Aktivpotential einzusetzen. Es muss auch versucht werden, in
- auf Wunsch der Beteiligten vertraulichen
- Gesprächen Aussagen von Zeitzeugen zu gewinnen, die ggf. mit
Sperrfristen versehen archiviert werden können.
è
Grundsätzlich: Es darf keine Politik stattfinden, die Menschen – egal welcher
Herkunft - in Extremsituationen führt, wie sie damals herrschten.
Nottuln,
03. März 2002
Hans-Peter Boer