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MdB Winni Nachtwei
Berlin

Große Sorge: Steige bitte aus der Eskalationsspirale aus!

Lieber Winni,

 unendliche Trauer für die vielen Menschen, die in der vergangenen Woche in New York und Washington starben, das ist das vorherrschende Gefühl, das uns – wie fast alle Menschen in der ganzen Welt  - befallen hat. Warum mussten so viele Menschen unschuldig sterben?  Zu begreifen ist das nicht – genauso wenig, wie es zu begreifen ist, dass Menschen in Jerusalem Opfer von Selbstmordattentätern werden, dass ein kleiner Junge in Palästina erschossen wird, dass einundeinhalb Millionen Menschen in Ruanda abgeschlachtet werden, dass Menschen, die auf einer Brücke in Belgrad die Donau überqueren wollen, von amerikanischen Piloten bombardiert werden und sterben müssen, dass jeden Tag 20.000 Menschen auf unserem Globus sterben müssen, weil sie nicht genug zu essen haben. Und doch ist es diesmal etwas anderes. In die Trauer um gestorbene Menschen mischt sich eine Furcht – eine ungeheuere Furcht. Diesmal ist eine weitere Tabugrenze gefallen, eine ungeheuere Drehung an der Gewaltspirale erfolgt, wie wir es bisher nicht erlebten, nicht für möglich hielten – menschenverachtende Verbrechen, unvergleichlich.  Plötzlich scheint alles möglich, scheint es keine Grenzen von barbarischer Gewalt mehr zu geben. Die Menschheit scheint – was diese Frage angeht - ins Alter der Steinzeit zurückgefallen.  Wann werden wir den nächsten Terrorakt erleben? Zweifellos ist dieser Tag eine Zäsur. Nichts ist mehr wie vorher. Mit alten Rezepten kommen wir nicht weiter. Und niemand weiß so recht, was nun kommen soll. Hilflosigkeit.

Gleichzeitig mischt sich in diese Furcht eine große, unbestimmte Angst vor dem, was kommt. Deshalb schreiben wir diesen Brief.

Klar, die Haltung der Bundesregierung ist nachvollziehbar: „Uneingeschränkte Solidarität“, „Krieg gegen die Zivilisation“, „stehen den Amerikanern bei“. Diese Haltung entbehrt nicht einer gewissen Logik. Jetzt die Amerikaner allein stehen zu lassen, heißt sie zu isolieren und das kann alles nur noch schlimmer machen. Nur durch Solidarität kann man „mäßigenden“ Einfluss ausüben. Und dennoch ist diese Politik gefährlich, ist die Weiterführung dieser politischen Linie des „uneingeschränkten“ Mitmachens, was auch immer kommt, falsch. Wir bitten dich, dass du da rechtzeitig aussteigst.

Die Welt scheint in einem kollektiven Rauschzustand. Ein  ungeheuerer Sog entwickelt sich, dem sich zu entziehen schwer wird. Wer wollte da abseits stehen, wenn es um den großen Kampf gegen den Terrorismus geht. Die Dimensionen dieses Kampfes nehmen irrationale Züge an, zeugen nicht von verantwortlicher Politik. Dem Streben der Massen nach Rache und Vergeltung wird nachgegeben – mit ungeheuerlichem, martialischem Getöse. Rumsfeld spricht von einem „Feldzug“, schwört seine Soldaten ein, die jetzt schon „im Feld“ stehen. Sie sind jetzt schon „Helden“. Ganze Staaten sollen ausgelöscht werden. Zu den 1,5 Mio amerikanischen Soldaten werden 50.000 weitere rekrutiert. Freiwillige melden sich überall. 40 Milliarden Dollar werden locker gemacht. Der Präsident erhält eine „Vollmacht“. Gerade dieser! Wer kann in diesen Mann Vertrauen haben - du?

Man kann nur froh sein über jeden Tag, der „ungetan“ verstreicht, in der Hoffnung, dass wieder Ernüchterung einsetzt. Selbst der deutsche Innenminister spricht in einer Talkshow davon, dass die Urheber dieser Attentate „vernichtet werden müssen“. Nun kann man sagen, nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Diese Ausbrüche dienen der Beruhigung der Massen. Doch plötzlich bekommt man eine Ahnung davon, wie das damals war, als viele Menschen glaubten, Hitler sei nur ein Verbalradikaler, der sich wichtig tue. Eine falsche Einschätzung dieser Art kann sich heute nicht wiederholen? Wer ist da sicher?

Kritik ist nicht gefragt. Alle drängen zur „großen Koalition der Vernunft“. Wer aus dem Mainstream aussteigt, gilt als Verräter. Schily fuhr in der besagten Talkrunde „Berlin Mitte“  Egon Bahr sofort in die Parade, als dieser auch nur leise Kritik an einer Position der Amerikaner äußerte. Wir sind alle Amerikaner. Und plötzlich bekommt man eine Ahnung davon, wie das vor dem Ersten Weltkrieg war, als der Kaiser „keine Parteien, nur noch Deutsche“ kannte, als dann auch die „vaterlandslosen Gesellen“ von der SPD die Kriegskredite für einen unsinnigen Krieg bewilligten.   Das kann sich heute nicht wiederholen? Wer ist da sicher?

Der gegenwärtige Aktionismus macht die große Hilflosigkeit deutlich und soll sie verdecken. Sie soll verdecken, wie narzistisch gekränkt die USA sind. Mit Stärke hat dies nichts zu tun?

Stärke würde es ermöglichen, in Ruhe und mit der vielzitierten Besonnenheit die Verbrecher ausfindig zu machen und sie nach Recht und Gesetz zu bestrafen. Stärke würde es ermöglichen, inne zu halten und die eigene Politik zu überdenken. Warum ist der Hass gerade auf die Amerikaner so groß – und nicht nur bei den Menschen, die dann zur „Tat“ schreiten (siehe Anhang)?

War das Attentat ein Anschlag auf Demokratie und Freiheit oder galt er – der Symbolgehalt der Ziele kann nicht geleugnet werden – der Militär- und Wirtschaftspolitik der USA?

Stärke würde es ermöglichen, neue mögliche Wege der internationalen Politik überhaupt einmal zu denken.

Diese amerikanische Regierung hat diese Stärke nicht. Und so ist das Schlimmste zu befürchten. Die nächste Stufe der Gewalt wird eingeplant. Wie das Resultat aussieht, kann man mikrokosmisch schon jetzt und seit Jahren täglich im Nahen Osten sehen. Auf jeden israelischen Vergeltungsschlag – immer von allen verurteilt – folgt das nächste Attentat. Wie wäre wohl die Entwicklung in der Bundesrepublik gelaufen, hätte der Staat zur Bekämpfung der RAF eine solche Strategie der Rache und der Vergeltung eingeschlagen, wie sie jetzt droht? Was wäre passiert, wenn „Vernichtung“ verfolgt worden wäre, wenn die RAF-Terroristen „gejagt“ worden wären  und dabei auch „Sympathisanten“ und „natürlich“ auch unschuldige Menschen getötet worden wären?

 

Durch Rache- und Vergeltungsstrategien werden neue Generationen von Terroristen erzeugt, die Saat für weitere Gewalt – immer schrecklicher werdend – wird gelegt.

Wenn es eine Lehre aus diesem Drama gibt, dann, dass Gewalt und Militär nicht in der Lage sind, Konflikte und Krisen zu befrieden, sondern dass diese in der Regel eskalierend wirken. Der Nahe Osten ist dafür ein Beispiel, ebenso der Golfkrieg, der Vietnamkrieg und...

Auch zur „Verteidigung“ ist Militär nur bedingt brauchbar. Bei der „Verteidigung“ nur auf Militär zu setzen, sich gar „unverwundbar“ zu machen – z.B. durch einen Raketenabwehrschirm – ist eine lebensgefährliche Illusion. Wie verletzbar trotz militärischer „Stärke“ unsere Gesellschaft ist, zeigt der 11. September. Schon vor 20 Jahren hat die Friedensbewegung deutlich gemacht, dass es eine militärische Verteidigung auch der Bundesrepublik nicht geben kann. Unsere damalige Warnung: eine Rakete, ein Attentat auf ein Kernkraftwerk lässt jede Vision einer Verteidigungsfähigkeit wie ein Kartenhaus zusammenfallen.

Natürlich muss gegen Terrorismus vorgegangen werden, müssen neue Sicherheitsbestimmungen überlegt werden. Aber zu glauben, man könne sich vollkommen oder auch nur fast vollkommen schützen, ist sträflich unrealistisch. Jetzt werden die Sicherheitsbestimmungen auf den Flughäfen erhöht. Richtig. Was ist, wenn das nächste Mal ein Zug gekidnappt wird, der mit hoher Geschwindigkeit in einen Bahnhof rast. Auch hier können Sicherheitsschranken eingebaut werden, die das unwahrscheinlich machen. Was ist wenn, ein Lastwagen mit explosivem Stoff gefüllt in eine Innenstadt rast? Wenn vor der Nordseeküste ein Schiff mit gefährlichen Stoffen auftaucht?

Sicherheit kann nur der produzieren, der neben den notwendigen Sicherheitsmaßnahmen bereit ist, eine Politik zu machen, die den Sumpf des Terrorismus trocken legt, eine internationale Politik des sozialen, wirtschaftlichen und politischen Ausgleichs. Das würde jedoch weit mehr an Einsatz von uns verlangen, als wir heute zu geben bereit sind. Da reichen keine patriotischen Töne, keine Millionen an Soldaten, keine 40 Milliarden Dollar (siehe Anhang).

 

Lieber Winni,  du hast den Jugoslawienkrieg, bei dem es zunächst dem Anschein nach ging, Völkermord und Massenvertreibung zu verhindern, gesagt, dies sei ein abschreckendes Modell gewesen. Wenn das schon abschreckend auf dich wirkte, um wie viel mehr muss ein „Feldzug“ der Rache und der Vergeltung dich abschrecken. Alle deine bisherigen Positionen würden zu einem Trümmerhaufen zusammenbrechen. Wir wollen dir Mut machen, bei deiner Überzeugung zu bleiben.

Wer jedoch hier die Hand hebt, der hat – anders als beim Jugoslawienkrieg, anders erst recht als beim Einsatz in Mazedonien – eine Linie überschritten, hinter die es kein Zurück gibt. Diese Linie ist ein Rubikon. 

Mit freundlichem Gruß

Für die FI Nottuln

Robert Hülsbusch

  

Anhang:

 „Terrorismus“  von Robert Bowman, Amerikaner

 Robert Bowman flog 101 Kampfangriffe in Vietnam. Heute ist er Bischof der Vereinigten Katholischen Kirche in Melbourne Beach, Florida/USA. 

„In Kanada genießen die Menschen Demokratie, Freiheit und Menschenrechte; ebenso die Menschen in Norwegen und Schweden. Hast du schon mal von einer kanadischen Botschaft gehört, die bombardiert wurde? Oder von einer norwegischen oder schwedischen?

 Wir werden nicht gehasst, weil wir Demokratie ausüben, Freiheit schätzen oder die Menschenrechte unterstützen. Wir werden gehasst, weil die amerikanische Regierung diese Dinge den Menschen in den Dritte-Welt-Ländern versagt, deren Rohstoffe von unseren Großkonzernen begehrt werden: Der Hass, den wir säten, ist zurückgekommen, um uns in der Form des Terrorismus zu bedrohen - und in der Zukunft: Atomterrorismus!

 Sobald die Wahrheit erkannt ist, warum diese Bedrohung besteht, wird die Lösung klar: Wir müssen unsere Richtung ändern. Unsere Atomwaffen loszuwerden, gegebenenfalls einseitig, wird unsere Sicherheit erhöhen, und eine drastische Änderung unserer Außenpolitik wird sie garantieren.

 Anstatt unsere Söhne und Töchter um die Welt zu schicken, um Araber zu töten, damit wir das Öl, das unter deren Sand liegt, haben können, sollten wir sie senden, um deren Infrastruktur wieder in Stand zu setzen, reines Wasser zu liefern und hungernde Kinder zu füttern. Anstatt damit weiterzumachen, tagtäglich Hunderte von irakischen Kindern durch unsere Sanktionen umzubringen, sollten wir den Irakern helfen, ihre Elektrizitätswerke, ihre Wasseraufbereitungsanlagen und ihre Krankenhäuser wieder aufzubauen all die Sachen, die wir zerstörten und deren Wiederaufbau wir verhinderten.

 Anstatt Terroristen und Todesschwadronen auszubilden, sollten wir die School of Americas schließen. Anstatt Aufstand, Zerrüttung, Mord und Terror weltweit zu unterstützen, sollten wir den CIA abschaffen und das Geld Hilfsorganisationen geben.

 Kurzum, wir sollten Gutes tun anstelle von Bösem. 

Wer würde versuchen, uns aufzuhalten?

Wer würde uns hassen?

Wer würde uns bombardieren wollen?

Das ist die Wahrheit, die die amerikanischen Bürger und die Welt hören müssen.

(Erschienen Frühjahr 1999 in "DER PFLUG" Publikation der Bruderhöfe, hg. von: The Plough Publishing House of The Bruderhof Foundation, Spring Valley Bruderhof, Farmington PA 15437, USA Darvell Bruderhof, Robertsbridge, East Sussex, TN32, 5DR, UK)