MÜTTER FÜR DEN FRIEDEIS
DÜSSELDORF
Gegründet 1981 • Sean-MacBride- Friedenspreisträgerinnen l 9  99l
 

Informationen zur aktuellen Lage im
Kaukasus Oktober - November 2000
Tschetschenien
u.a. Besuch der Städte Grosny, Urus Martan und Sernovodsk
 

Seit Ende August 1999 bis heute wird die Zahl der getöteten Tschetschenen auf 45.000 Menschen geschätzt; 400.000 sind Flüchtlinge, davon leben ca. 200.000 in Flüchtlingslagern in der Nachbarrepublik Inguschetien. Über 3000 Kinder sind Vollwaisen geworden;
ca. 20.000 Kinder haben einen Elternteil verloren. Die Zahl der im 2. Krieg verletzten Kinder wird auf 16.000 geschätzt (einschließlich Minen-Unfälle)- im 1. Krieg waren es etwa 5.000 . Kriegszustand in Tschetschenien:
dauernde Präsenz des russischen Militärs: Soldaten der russischen Föderation (Föderal troops), des Innenministeriums, Spezialeinheiten „Ommon" - immer schussbereite Waffen (meist Kalaschnikows) zielgerichtet auf Menschen, mit schwarzen Strickmasken mit Sehschlitzen vermummte Soldaten auf Panzern oder Militärfahrzeugen dauernd für die Bevölkerung als Bedrohung sichtbar und hörbar;
willkürliche Verhaftungen, Verschleppungen, Erschießungen;
170.000 Tschetschenen sind bisher verschwunden (entweder getötet
oder in den „filtration camps").
Jede Nacht hört man stundenlang Schüsse - aus der Nähe, aus der
Entfernung - und wie in Urus Martan Einschläge von Granaten.
36 Ölleitungen brennen in Grosny und in der Umgebung. Aus unzähligen
kaputten Gasleitungen tritt seit Monaten Gas aus. Über Grosny hängt
eine dunkelgraue, von weitem deutlich sichtbare Smogschicht.
Es gibt in Grosny weder Wasser, noch Elektrizität, noch Heizung.
Alle Häuser sind vom 1. und durch den 2. Krieg beschädigt bis total
zerstört. Das Stadtzentrum ist eine riesengroße Ruinenwüste.
Trotzdem leben in Grosny nach Schätzungen 60.000 bis 80.000
Menschen. Sie sind alle physisch und psychisch krank.
Die medizinische Versorgung gibt es nicht; es gibt - wenn man Glück hat
im Krankenhaus Nr. 9 einen Arzt, der nur noch „gute Worte" hat.
Nach Tschetschenien, insbesondere nach Grosny afe Ausländer
MÜTTER   FÜR   DEN   FRIEDEN•DÜSSELDORF
KONTAKT: BARBARA GLADYSCH • ADRESSE: GERANIENWEG 5, 40468 DÜSSELDORF, DEUTSCHLAND TEL.: (0211) 42301 31 • MOBIL-TEL: 0171 - 9 568746 • FAX: (0211) 4 79 10 39
KONTO: MÜTTER F. D. FRIEDEN, NR. 270 321 76, STADT-SPARKASSE D'DORF, BLZ 300 501 10
 
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hineinzukommen, ist kaum möglich; man muss eine besondere Erlaubnis der russischen Kommandantur vorlegen, die man nur durch „Beziehung" bekommt. Filmen und fotografieren ist strengstens verboten und Grund zur Verhaftung. Über 10 „block-posts" muss man passieren auf dem Weg nach Grosny und in der Stadt selbst sind es ungefähr genauso viel. Block-post bedeutet: Schikane, Erniedrigung, Demütigung, Angst, Bedrohung, Kontrolle ... und Risiko, verhaftet und getötet zu werden. Block posts sind von russischen Soldaten errichtete Straßensperren zum Zweck der Kontrollen von Fahrzeugen, Menschen und deren Pässen. Film- und Fotoapparate werden eingezogen. Block posts sind Betonsperren, Stacheldraht, Sandsäcke, Tarnnetze und die Hinweise: bei Nichtbefolgung der Aufforderungen durch die Soldaten wird sofort geschossen - das heißt: absolutes Wohlverhalten zeigen. Für die Tschetschenen sind diese Begegnungen mit den Soldaten an den block posts eine schmerzhafte Verletzung ihrer Würde. Das Militär erzeugt Wut, Angst und Hass. Das gehört zur Aufgabe und zum Ziel der Soldaten. So produzieren sie selbst tschetschenische Rebellen.
FlüchtHngssituati'on in Inguschetien:
In Nazran sind neben UNHCR und anderen UN-Organisationen noch ca. 10 internationale Hilfsorganisationen tätig;
aus Deutschland sind dort: Nazran heip e.V. (Heinz Bitsch, Bonn), Hammer Forum (Carsten Steifer)und Lazarus Hilfswerk (Gerd.W. Widmann); es sind vergleichsweise zu anderen Kriegs- und Krisengebieten eine verschwindend kleine Anzahl von Helfern - obwohl die Quantität und Qualität des Leids, des Elends in den Flüchtlingslagern unermesslich ist.
Die Organisation, mit der „Mütter für den Frieden" assoziiert ist, heißt CPCD (Center for peacemaking and community development). Direktor ist Chris Hunter. Er hat nur lokale Mitarbeiter/innen in Inguschetien und in Tschetschenien. Chris Hunter und Barbara Gladysch haben Anfang 1997 in Grosny den „Kleinen Stern" gegründet, ein Rehabilitationszentrum für traumatisierte Kinder. In vier verschiedenen Flüchtlingslagern gibt es zur Zeit insgesamt 7 Kinderzelte vom „Kleinen Stern"; in Grosny werden in den nächsten Wochen drei „Kleine Stern"-Zentren geöffnet mit insgesamt 15 Pädagogen/innen und einer Psychologin. Alle Kinder und ihre Familien in den Camps kennen den „Kleinen Stern" und können dort ihre Zeit kindgerecht verbringen. Im Flüchtlingslager BART in Karabulak leben 4000 bis 5000 Flüchtlinge. Sie hausen in Zelten; es gibt zwei Wasserstellen; die Wege sind verschlammt. Die Menschen machen Tauschgeschäfte und erhalten die notwendigste Nahrung von humanitären Organisationen aus Nazran.
 
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Gegenüber von der Zeltstadt BART ist das Flüchtlingslager TUPIK 1:
ein Eisenbahnzug auf Abstellgleisen; in 76 Waggons leben 4.700 Menschen, darunter 1.350 Kinder unter 6 Jahren. Im Zug gibt es keine Heizung; es muss im Freien gekocht werden. Im Flüchtlingslager RASSVET in SIeptsovskaya hat CPCD zusätzlich zum „Kleinen Ster/?"-Zelt in neun Zelten eine Schule errichtet und mit finanzieller Unterstützung von UNICEF ist CPCD verantwortlich für die Organisation, für das Curriculum und für optimalen Unterricht von z.Zt. 901 Kindern aus dem Camp, die sonst nicht beschult würden. 26 Lehrer arbeiten in dieser Schule; es wird in 3 Schichten unterrichtet.
Diese kurze Vorstellung von drei verschiedenen Flüchtlingslagern soll exemplarisch die Lebenssituation der dort lebenden Tschetschenen darlegen. Immer wieder kehren die Flüchtlinge hauptsächlich nach Grosny zurück; es sind wöchentlich ca. 400 bis 500 Menschen, die seit über einem Jahr in diesen Flüchtlingslagern gelebt haben und es dort nicht mehr aushallen können. In umgekehrte Richtung kommen aber auch immer wieder Menschen nach Inguschetien, weil sie dort in erster Linie Schutz suchen. Bis Ende dieses Jahres werden in Inguschetien weitere 7 Flüchtlingslager (Zelte) für insgesamt 10400 Menschen fertig gestellt sein. Man hofft, dass die Leute aus den Eisenbahnen und aus den primitivsten ungeheizten Zelten umsiedeln. Die ärztliche Versorgung ist sehr eingeschränkt. Das Krankenhaus in Nazran weigert sich, tschetschenische Flüchtlinge aufzunehmen, weil die Raumkapazitäten dies nicht mehr zulassen.
Dringend notwendiger politischer Handlungsbedarf
Überall - wohin ich kam - wurde ich eindringlich und sehr emotional
von den Flüchtlingen, von den ansässigen Inguschen und
Tschetschenen und auch von den mir bekannten Mitarbeiter/innen
nach der Rolle der Politik z.B. der deutschen Politik befragt.
In Bosnien, im Kosovo da war man präsent. Deutsche Politiker
fuhren in das Kriegs- und Krisengebiet: Es kam Hilfe, Unterstützung und
die Menschen rechte wurden eingeklagt.
In Tschetschenien wird mit anderen Maßstäben gerechnet.
Die Frage, wer dort die tatsächlichen Kriminellen, Mörder und Banditen
sind, lässt sich schnell und leicht beantworten: es gibt sie auf beiden
Seiten. Trotzdem ist die eine Seite verbrecherischer: das ist die Seite
des russischen Militärs und seiner Auftraggeber. Das muss so klar und
deutlich ausgesprochen und angeprangert werden - auch auf
die Gefahr hin, dass der „russische Bär" die Krallen zeigt oder sich
beleidigt und verärgert in die Ecke verkriecht.
 
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Der Tschetschene ist stolz und heimatverbunden.
Die Flüchtlinge kehren auch deshalb nach Grosny zurück, um damit den
Russen zu zeigen, dass sie nie und nimmer ihre Hauptstadt aufgeben
werden. Sie zeigen Würde, wenn sie in ihren ärmlichen Behausungen
Gäste bewirten. Sie wollen nicht „betteln", sondern anerkannt sein,
beachtet und nicht verachtet werden. Sie haben Kultur und leben
danach. Ihre größte Sorge ist, dass ihre Kinder keine ausreichende
Bildung erhalten. Für sie ist es unbestritten, dass jeder Tschetschene
seine Geschichte (es ist immer eine Geschichte der Vertreibung
gewesen), die Familie und ihr Land Tschetschenien hoch achten.
Die Religion ist für sie eine Hilfe, das Unrecht zu ertragen; nur für
Fanatiker (und das ist die absolute Minderheit) spielt Religion eine
extreme Rolle.
Mein Appell an die Bundesregierung, an alle Politiker aller Parteien
heißt:
Kümmern Sie sich - auf politischer Ebene - um ein Volk, das zu Europa gehört, gegen das Russland auch heute noch KRIEG führt und das auch ein Recht auf Solidarität und Hilfe hat von uns Deutschen! Nicht in erster Linie um humanitäre Hilfe, sondern um politische, kluge, diplomatische - und ehrliche Unterstützung bitten die Tschetschenen.
Ich lade interessierte Politiker herzlich ein, mit mir zusammen nach Inguschetien zu gehen, mit den Flüchtlingen dort zu sprechen, ihre Geschichten zu hören und ... sich auf den Weg nach Grosny zu machen Ich lade sie ein, sich an Ort und Stelle zu informieren ...
Ich hatte 41 Tschetschenen vom 3.12. bis 11.12.2000 nach Düsseldorf eingeladen: es waren in erster Linie Kinder des bekannten Kindertanzensembles „Daimokh" unter der Leitung von Ramzan Ahmadov, Solotänzer mit vielen Auszeichnungen. 15 dieser Kinder und deren Eltern hatte ich am 29.10.2000 in Grosny getroffen.
Die anderen Kinder, die zu dieser Tanzgruppe gehören, waren in Flüchtlingslagern verstreut und wurden von Ramzan Ahmadov aufgesucht und auf die Reise vorbereitet. Ich habe sie eingeladen, weil sie mich darum sehr gebeten hatten , weil sie ihre Kunst, ihr Können uns verstellen wollten. Um ihre Würde geht es, um ihr Selbstwertgefühl als Kinder von angeblichen „Banditen".
Sie wollen nicht betteln - sie wollen und brauchen Anerkennung,
Beachtung.
Das ist genauso wichtig wie ein Stück Brot.
Barbara Gladysch