Informationen zur aktuellen Lage im
Kaukasus Oktober - November
2000
Tschetschenien
u.a. Besuch der Städte Grosny, Urus Martan und Sernovodsk
Seit Ende August 1999 bis heute wird die Zahl der getöteten Tschetschenen
auf 45.000 Menschen geschätzt; 400.000 sind Flüchtlinge, davon
leben ca. 200.000 in Flüchtlingslagern in der Nachbarrepublik Inguschetien.
Über 3000 Kinder sind Vollwaisen geworden;
ca. 20.000 Kinder haben einen Elternteil verloren. Die Zahl der im
2. Krieg verletzten Kinder wird auf 16.000 geschätzt (einschließlich
Minen-Unfälle)- im 1. Krieg waren es etwa 5.000 . Kriegszustand in
Tschetschenien:
dauernde Präsenz des russischen Militärs: Soldaten der russischen
Föderation (Föderal troops), des Innenministeriums, Spezialeinheiten
„Ommon" - immer schussbereite Waffen (meist Kalaschnikows) zielgerichtet
auf Menschen, mit schwarzen Strickmasken mit Sehschlitzen vermummte Soldaten
auf Panzern oder Militärfahrzeugen dauernd für die Bevölkerung
als Bedrohung sichtbar und hörbar;
willkürliche Verhaftungen, Verschleppungen, Erschießungen;
170.000 Tschetschenen sind bisher verschwunden (entweder getötet
oder in den „filtration camps").
Jede Nacht hört man stundenlang Schüsse - aus der Nähe,
aus der
Entfernung - und wie in Urus Martan Einschläge von Granaten.
36 Ölleitungen brennen in Grosny und in der Umgebung. Aus unzähligen
kaputten Gasleitungen tritt seit Monaten Gas aus. Über Grosny
hängt
eine dunkelgraue, von weitem deutlich sichtbare Smogschicht.
Es gibt in Grosny weder Wasser, noch Elektrizität, noch Heizung.
Alle Häuser sind vom 1. und durch den 2. Krieg beschädigt
bis total
zerstört. Das Stadtzentrum ist eine riesengroße Ruinenwüste.
Trotzdem leben in Grosny nach Schätzungen 60.000 bis 80.000
Menschen. Sie sind alle physisch und psychisch krank.
Die medizinische Versorgung gibt es nicht; es gibt - wenn man Glück
hat
im Krankenhaus Nr. 9 einen Arzt, der nur noch „gute Worte" hat.
Nach Tschetschenien, insbesondere nach Grosny afe Ausländer
MÜTTER FÜR DEN FRIEDEN•DÜSSELDORF
KONTAKT: BARBARA GLADYSCH • ADRESSE: GERANIENWEG 5, 40468 DÜSSELDORF,
DEUTSCHLAND TEL.: (0211) 42301 31 • MOBIL-TEL: 0171 - 9 568746 • FAX: (0211)
4 79 10 39
KONTO: MÜTTER F. D. FRIEDEN, NR. 270 321 76, STADT-SPARKASSE D'DORF,
BLZ 300 501 10
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hineinzukommen, ist kaum möglich; man muss eine besondere Erlaubnis
der russischen Kommandantur vorlegen, die man nur durch „Beziehung" bekommt.
Filmen und fotografieren ist strengstens verboten und Grund zur Verhaftung.
Über 10 „block-posts" muss man passieren auf dem Weg nach Grosny und
in der Stadt selbst sind es ungefähr genauso viel. Block-post bedeutet:
Schikane, Erniedrigung, Demütigung, Angst, Bedrohung, Kontrolle ...
und Risiko, verhaftet und getötet zu werden. Block posts sind von
russischen Soldaten errichtete Straßensperren zum Zweck der Kontrollen
von Fahrzeugen, Menschen und deren Pässen. Film- und Fotoapparate
werden eingezogen. Block posts sind Betonsperren, Stacheldraht, Sandsäcke,
Tarnnetze und die Hinweise: bei Nichtbefolgung der Aufforderungen durch
die Soldaten wird sofort geschossen - das heißt: absolutes Wohlverhalten
zeigen. Für die Tschetschenen sind diese Begegnungen mit den Soldaten
an den block posts eine schmerzhafte Verletzung ihrer Würde. Das Militär
erzeugt Wut, Angst und Hass. Das gehört zur Aufgabe und zum Ziel der
Soldaten. So produzieren sie selbst tschetschenische Rebellen.
FlüchtHngssituati'on in Inguschetien:
In Nazran sind neben UNHCR und anderen UN-Organisationen noch ca. 10
internationale Hilfsorganisationen tätig;
aus Deutschland sind dort: Nazran heip e.V. (Heinz Bitsch, Bonn), Hammer
Forum (Carsten Steifer)und Lazarus Hilfswerk (Gerd.W. Widmann); es sind
vergleichsweise zu anderen Kriegs- und Krisengebieten eine verschwindend
kleine Anzahl von Helfern - obwohl die Quantität und Qualität
des Leids, des Elends in den Flüchtlingslagern unermesslich ist.
Die Organisation, mit der „Mütter für den Frieden" assoziiert
ist, heißt CPCD (Center for peacemaking and community development).
Direktor ist Chris Hunter. Er hat nur lokale Mitarbeiter/innen in Inguschetien
und in Tschetschenien. Chris Hunter und Barbara Gladysch haben Anfang 1997
in Grosny den „Kleinen Stern" gegründet, ein Rehabilitationszentrum
für traumatisierte Kinder. In vier verschiedenen Flüchtlingslagern
gibt es zur Zeit insgesamt 7 Kinderzelte vom „Kleinen Stern"; in Grosny
werden in den nächsten Wochen drei „Kleine Stern"-Zentren geöffnet
mit insgesamt 15 Pädagogen/innen und einer Psychologin. Alle Kinder
und ihre Familien in den Camps kennen den „Kleinen Stern" und können
dort ihre Zeit kindgerecht verbringen. Im Flüchtlingslager BART in
Karabulak leben 4000 bis 5000 Flüchtlinge. Sie hausen in Zelten; es
gibt zwei Wasserstellen; die Wege sind verschlammt. Die Menschen machen
Tauschgeschäfte und erhalten die notwendigste Nahrung von humanitären
Organisationen aus Nazran.
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Gegenüber von der Zeltstadt BART ist das Flüchtlingslager
TUPIK 1:
ein Eisenbahnzug auf Abstellgleisen; in 76 Waggons leben 4.700 Menschen,
darunter 1.350 Kinder unter 6 Jahren. Im Zug gibt es keine Heizung; es
muss im Freien gekocht werden. Im Flüchtlingslager RASSVET in SIeptsovskaya
hat CPCD zusätzlich zum „Kleinen Ster/?"-Zelt in neun Zelten eine
Schule errichtet und mit finanzieller Unterstützung von UNICEF ist
CPCD verantwortlich für die Organisation, für das Curriculum
und für optimalen Unterricht von z.Zt. 901 Kindern aus dem Camp, die
sonst nicht beschult würden. 26 Lehrer arbeiten in dieser Schule;
es wird in 3 Schichten unterrichtet.
Diese kurze Vorstellung von drei verschiedenen Flüchtlingslagern
soll exemplarisch die Lebenssituation der dort lebenden Tschetschenen darlegen.
Immer wieder kehren die Flüchtlinge hauptsächlich nach Grosny
zurück; es sind wöchentlich ca. 400 bis 500 Menschen, die seit
über einem Jahr in diesen Flüchtlingslagern gelebt haben und
es dort nicht mehr aushallen können. In umgekehrte Richtung kommen
aber auch immer wieder Menschen nach Inguschetien, weil sie dort in erster
Linie Schutz suchen. Bis Ende dieses Jahres werden in Inguschetien weitere
7 Flüchtlingslager (Zelte) für insgesamt 10400 Menschen fertig
gestellt sein. Man hofft, dass die Leute aus den Eisenbahnen und aus den
primitivsten ungeheizten Zelten umsiedeln. Die ärztliche Versorgung
ist sehr eingeschränkt. Das Krankenhaus in Nazran weigert sich, tschetschenische
Flüchtlinge aufzunehmen, weil die Raumkapazitäten dies nicht
mehr zulassen.
Dringend notwendiger politischer Handlungsbedarf
Überall - wohin ich kam - wurde ich eindringlich und sehr emotional
von den Flüchtlingen, von den ansässigen Inguschen und
Tschetschenen und auch von den mir bekannten Mitarbeiter/innen
nach der Rolle der Politik z.B. der deutschen Politik befragt.
In Bosnien, im Kosovo da war man präsent. Deutsche Politiker
fuhren in das Kriegs- und Krisengebiet: Es kam Hilfe, Unterstützung
und
die Menschen rechte wurden eingeklagt.
In Tschetschenien wird mit anderen Maßstäben gerechnet.
Die Frage, wer dort die tatsächlichen Kriminellen, Mörder
und Banditen
sind, lässt sich schnell und leicht beantworten: es gibt sie auf
beiden
Seiten. Trotzdem ist die eine Seite verbrecherischer: das ist die Seite
des russischen Militärs und seiner Auftraggeber. Das muss so klar
und
deutlich ausgesprochen und angeprangert werden - auch auf
die Gefahr hin, dass der „russische Bär" die Krallen zeigt oder
sich
beleidigt und verärgert in die Ecke verkriecht.
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Der Tschetschene ist stolz und heimatverbunden.
Die Flüchtlinge kehren auch deshalb nach Grosny zurück, um
damit den
Russen zu zeigen, dass sie nie und nimmer ihre Hauptstadt aufgeben
werden. Sie zeigen Würde, wenn sie in ihren ärmlichen Behausungen
Gäste bewirten. Sie wollen nicht „betteln", sondern anerkannt
sein,
beachtet und nicht verachtet werden. Sie haben Kultur und leben
danach. Ihre größte Sorge ist, dass ihre Kinder keine ausreichende
Bildung erhalten. Für sie ist es unbestritten, dass jeder Tschetschene
seine Geschichte (es ist immer eine Geschichte der Vertreibung
gewesen), die Familie und ihr Land Tschetschenien hoch achten.
Die Religion ist für sie eine Hilfe, das Unrecht zu ertragen;
nur für
Fanatiker (und das ist die absolute Minderheit) spielt Religion eine
extreme Rolle.
Mein Appell an die Bundesregierung, an alle Politiker aller Parteien
heißt:
Kümmern Sie sich - auf politischer Ebene - um ein Volk, das zu
Europa gehört, gegen das Russland auch heute noch KRIEG führt
und das auch ein Recht auf Solidarität und Hilfe hat von uns Deutschen!
Nicht in erster Linie um humanitäre Hilfe, sondern um politische,
kluge, diplomatische - und ehrliche Unterstützung bitten die Tschetschenen.
Ich lade interessierte Politiker herzlich ein, mit mir zusammen nach
Inguschetien zu gehen, mit den Flüchtlingen dort zu sprechen, ihre
Geschichten zu hören und ... sich auf den Weg nach Grosny zu machen
Ich lade sie ein, sich an Ort und Stelle zu informieren ...
Ich hatte 41 Tschetschenen vom 3.12. bis 11.12.2000 nach Düsseldorf
eingeladen: es waren in erster Linie Kinder des bekannten Kindertanzensembles
„Daimokh" unter der Leitung von Ramzan Ahmadov, Solotänzer mit vielen
Auszeichnungen. 15 dieser Kinder und deren Eltern hatte ich am 29.10.2000
in Grosny getroffen.
Die anderen Kinder, die zu dieser Tanzgruppe gehören, waren in
Flüchtlingslagern verstreut und wurden von Ramzan Ahmadov aufgesucht
und auf die Reise vorbereitet. Ich habe sie eingeladen, weil sie mich darum
sehr gebeten hatten , weil sie ihre Kunst, ihr Können uns verstellen
wollten. Um ihre Würde geht es, um ihr Selbstwertgefühl als Kinder
von angeblichen „Banditen".
Sie wollen nicht betteln - sie wollen und brauchen Anerkennung,
Beachtung.
Das ist genauso wichtig wie ein Stück Brot.
Barbara Gladysch