Ein Tag in Tschetschenien

 

Grosny im Oktober 2003:

 

Die Hauptstraßen werden ausgebessert; Kolonnen von Frauen mit Reisigbesen säubern die Straßen; langsam und bedächtig fahren Spezialpanzer zum Minen-aufspüren und –vernichten auf dem Mittelstreifen; an den Straßenrändern suchen russische Soldaten mit Minensonden vorsichtig Schritt für Schritt - die Blicke angestrengt auf den Erdboden gerichtet – nach ihren eigenen Minen, die sie Monate, Jahre  vorher für die Zivilbevölkerung ausgelegt hatten. Oder sie spüren die Minen auf, die für sie selbst gedacht sind, versteckt diesmal von den tschetschenischen Rebellen. Die Hauptverkehrsstraße soll minenfrei sein an diesem Tag. Im Jahr 2002 gab es in Tschetschenien 5.695 Minenopfer. Heute darf keine Mine explodieren.

 

Es ist Sonntag, der 19. Oktober 2003, kein gewöhnlicher Tag: heute wird der Präsident von Tschetschenien Achmad Kadyrow feierlich in sein Amt eingeführt. Man erwartet viele wichtige Gäste aus Moskau und aus den umliegenden Republiken. Die „Stube“ muss glänzen, die Sicherheit für die Staatsgäste muss garantiert sein.

 

Alle 30 Meter steht ein uniformierter, bewaffneter Soldat zu beiden Seiten der Hauptstraße. Im Hintergrund fahrbereit, einsatzbereit: militärische Fahrzeuge, vom Jeep bis zum Panzer. Die linke Spur der Straße, die Fahrbahn, die in die Stadt hineinführt, scheint gesperrt zu sein: für die Wagenkolonnen der wichtigen Männer. (Ich erinnere mich an die langen Wartezeiten in Moskau. Wenn Präsident Putin von vielen, vielen schwarzen Limousinen von seinem Haus in den Kreml gebracht wird, ruht der gesamte Straßenverkehr in diesem Bezirk für lange Zeit.)

 

Die Ruinenstadt Grosny ist gespenstisch ruhig. Die Straßen sind wie leergefegt; hier und da suchen streunende Hunde nach Essbarem. Sie treten immer in Rudeln auf. Und immer sind kleine wollene Knäuel dabei: Welpen, die von den „Großen“ durchgefüttert werden.

 

Die Bewohner von Grosny haben sich in ihre Ruinen zurückgezogen; oder sie fahren -  wie auch wir - aus der Stadt hinaus. Es könnte heute gefährlich werden. Keiner weiß, ob, wo und wann Anschläge geplant sind. Immer an denkwürdigen, bedeutenden Tagen passiert etwas.

 

Meine Freunde und ich wollen nach Urus Martan. Es nieselt. An den Straßensperren, an den „block-posts“ sieht alles sauberer aus als sonst. Die russischen Soldaten sind nicht vermummt; doch wie immer:  die Kalaschnikow im Anschlag  kontrollieren sie uns;  heute aber zügiger und ohne Schikanen. Wir müssen nicht aussteigen; nur

Rustam, unser Fahrer steigt aus.  Er kennt die Soldaten schon recht gut, denn fast täglich passiert er diesen „block-post“. Er weiß, was er tun muss und wie er sich zu verhalten hat: unaufgefordert zeigt er seine Papiere vor, bereitwillig öffnet er den Kofferraum zur Kontrolle,  tauscht einige freundliche Worte mit den Russen aus, wünscht ihnen einen „Guten Tag“ und fährt mit uns langsam und unverdächtig durch die Straßensperren hindurch.

Bis wir Urus Martan nach ca. drei Stunden erreicht haben, müssen wir diese Prozedur an noch fünf anderen „block-posts“ durchstehen.

Bei meinen vergangenen Reisen nach Tschetschenien gab es viel mehr von diesen Kontroll-Posten. Die Atmosphäre damals war auch wesentlich aggressiver und gefährlicher aus heute, so empfinde ich das.

 

„Du hast dich schon gut daran gewöhnt“, lacht Salina, meine tschetschenische Freundin und Dolmetscherin. „Du wirst langsam eine von uns. Du siehst ja schon so aus wie wir. Du bist eine Waynaschka mit deinem schwarzen Rock und dem Kopftuch, das so gebunden ist, wie die alten Frauen es tun“.

Eine alte „Waynaschka“ ist eine alte tschetschenische oder inguschetische Frau. Die Inguschen (oder Inguscheten) und die Tschetschenen gehören dem gleichen  Volksstamm an: den Waynachen. Sie sind Schwestern und Brüder. Die alten Frauen sind für russische Soldaten uninteressant: erst recht, wenn sie kein Wort herausbringen, weil sie taub, stumm und hilflos sind. So erleben mich die Soldaten und wissen nichts mit mir anzufangen. Und das ist gut so.

 

Rustam und Salina haben Spaß an meinem Aussehen. Wenn die russischen Soldaten wüssten, wer diese Waynaschka in Wirklichkeit ist...! Wir haben diesen Gedanken häufig „durchgespielt“: das größte Problem ist die Sicherheit meiner tschetschenischen Freunde. Ich verlasse mich ganz auf sie; ich entscheide nicht, sie entscheiden für mich; sie machen das „Programm“ für mich, sie legen fest, wo und wann ich wen treffe, wo ich schlafe und esse, wohin wir gemeinsam gehen und fahren. Auf den Straßen sprechen wir kein Wort miteinander. Im Bereich der Universität, auf dem Marktplatz, überall verhalte ich mich genauso wie sie bzw. wie eine „alte Waynaschka“.  Ich darf meine Freunde nicht in Gefahr bringen. Wir dürfen kein Aufsehen erregen. Dazu gehört auch, dass ich langsamer gehen muss. Das vergesse ich immer wieder!

 

Angst haben wir nicht, nicht mehr. Wir haben schon so viele Male gefährliche Situationen gemeinsam durchgestanden, überstanden. Nichts ist zur Routine geworden, aber vieles ist nicht mehr angstmachend oder furchterregend. Nicht weil ich mich an Gefahr, an Bedrohung, an Angst  gewöhnt hätte; es liegt daran, weil ich diese und ähnliche Situationen kenne und ich aus Erfahrung weiß, dass wir sie gemeinsam gut bewältigen.

 

Salina und Rustam kenne ich seit über sechs Jahren. Wir sind meist zweimal im Jahr

zusammen in Tschetschenien. Ohne sie und viele andere Freunde käme ich nicht in dieses Land und könnte mich dort nicht aufhalten. Sie brauchen mich und ich brauche sie. Das Wichtigste, was alle Menschen in Tschetschenien dringend brauchen, ist das Interesse an ihnen, das „Nicht-Vergessen“, die Aufmerksamkeit an ihrem Schicksal. In das Land kann man nicht so ohne weiteres reisen: als „Fremde“, als „international person“ müsste man sich eine Erlaubnis zur Einreise in Moskau oder spätestens in Nazran (Inguschetien) bei der russischen Administration einholen. Die bekommt jemand wie ich definitiv nicht. Und wenn ich sie bekäme, könnte ich mich nicht „frei bewegen“; ich hätte meine „Bewacher“ und könnte die Kontakte, die ich in den vergangenen sechs Jahren aufgebaut habe, nicht „pflegen“.

 

Warum fahren wir nach Urus Martan? Hier gibt es eine Familie, die mich schon seit langem erwartet. Beim letzten Mal im März 2003 gab es keine Möglichkeit, nach Urus Martan zu kommen. Aber heute. Heute lernen wir uns kennen: die Mutter Zarema, die älteste  Tochter Madina,  Madinas sechsjähriger Sohn Musa. Die jüngere Tochter Chanifa hatte ich im Mai 2001 in Nazran (Inguschetien) kennen gelernt; ich traf sie damals im Büro von Memorial. Memorial ist eine russische Menschenrechtsorganisation. Chanifa saß im „Foyer“ des Memorialbüros, hatte ein Bündel Papier in der Hand und wartete geduldig, bis Usam, ein Mitarbeiter von Memorial, Zeit für ein Gespräch hatte.

 

Chanifa erzählte:

„Ich bin hier, um zu melden, dass mein Vater ermordet und zwei meiner vier Brüder bei einer „Säuberungsaktion“ verschwunden sind. Ich habe hier alles genau aufgeschrieben und ich bitte Sie, uns zu helfen, damit wir erfahren, wo wir den Mord zur Anklage bringen können und wo meine Brüder sind, warum sie verschleppt wurden und warum uns das alles angetan wurde. Meine Mutter ist seitdem schwer krank, sie findet keine Ruhe. Sie braucht Medikamente, damit sie wieder normal wird.

 

Es war ein Donnerstag, der 19. April 2001. In den späten Abendstunden gegen zehn  Uhr hielten plötzlich drei Militärjeeps  vor unserem Haus. Soldaten mit Masken sprangen aus den Autos und rannten in unser Haus. Ich weiß nicht genau, wie viel es waren; wir denken, dass es bestimmt mehr als 10 vermummte Soldaten waren.  Wir Frauen lagen schon in unseren Betten, auch unser kleiner Musa. Nur zwei meiner Brüder, Said-Amin und Ruslan und mein Vater Magomed saßen noch in der Küche. Meine beiden anderen Brüder, der älteste: Adlan und der jüngste: Islam waren in den Aprilwochen in Sernovodsk bei unseren Verwandten, um ihnen beim Reparieren und Erneuern ihres Hauses zu helfen.

Meine Schwester, meine Mutter und ich wurden von dem Krach wach. Wir verstanden aber sofort, dass wir versteckt bleiben sollten, weil wir Frauen sind, denen man Schlimmes antun kann. Meine Mutter wollte unbedingt in die Küche. Wir konnten sie davon nicht abhalten und so ging sie in die Küche.

Die Soldaten fragten nach Wodka und Geld. Mein Vater sagte, dass er keinen Alkohol hat und auch kein Geld.  Meine Mutter bot ihnen Essen an oder zwei Hühner aus dem Stall. Die Soldaten waren schon betrunken und sie lachten meine Mutter aus. Meine Mutter erzählte uns später, dass sie geflucht und sehr schlimme Wörter gesagt hatten. Dann gingen die Soldaten durch unsere Zimmer und rissen die Schränke auf, warfen die Tische und Stühle um, schossen die Lampen kaputt und gebrauchten unser Wohnzimmer als Toilette. Dann standen sie in unserem Zimmer und lachten sehr schmutzig. Meine Schwester Madina und ich krochen unter unsere Decken und wir ließen uns nicht blicken. Mein kleiner Neffe Musa weinte laut. Meine Brüder und mein Vater stellten sich vor unsere Betten, um uns zu beschützen. Meine Mutter jammerte und bot den Soldaten alles an, was ihr einfiel, damit sie uns in Ruhe lassen. Sie wollten uns Mädchen haben, sagten sie. Und lachten wieder so schmutzig und sagten schlimme Worte. Mein Vater sagte: „Ihr kriegt die Mädchen nicht; nur über meine Leiche.“ „Das kannst du gleich haben,“ sagte ein Soldat und erschoss meinen Vater.  Meine Mutter fiel ohnmächtig auf den Boden. Sie stürzte auf den blutenden, sterbenden Körper meines Vaters. Mein Bruder Said-Amin schrie die Soldaten an, sie hätten genug Unheil angerichtet, sie sollten jetzt endlich gehen, sie  sollten uns Mädchen in Ruhe lassen, das sei für Männer feige und für einen Soldaten nicht ehrenvoll. Daraufhin wurde er von einem Russen mit der Kalaschnikow auf den Kopf  geschlagen, dass er sehr blutete. Said-Amin hörte aber nicht auf, uns zu verteidigen. Er habe kein Recht, sie zu beleidigen, schrie ein Soldat und stieß ihm sein Gewehr in die Rippen. Mein anderer Bruder, Ruslan,  kümmerte sich um meine Mutter und wollte sie gerade auf eines der beiden Betten legen, als ein anderer Soldat Ruslan einen so heftigen Fußtritt gab, dass er mit meiner Mutter im Arm gegen die Wand stieß und mit ihr auch zu Boden fiel. Ich habe das alles gesehen, weil ich mir ein Guckloch in meiner Decke gemacht hatte. Dann kam ein Soldat in unser Zimmer, der vorher nicht dabei war. Es waren im ganzen fünf Soldaten in unserem Schlafzimmer. Die anderen waren woanders. Dieser Soldat sagte, sie sollten jetzt Schluss machen. „Was machen wir mit den Leuten?“ fragte einer. „Die Männer nehmen wir mit. Besorgt Euch Geld, dann  könnt Ihr sie ja wieder austauschen“, sagte ein anderer Soldat und warf dabei die Bettdecken von unseren Körpern. Dabei lachte er wieder schmutzig, drehte sich aber um und stieß dabei an den Körper meines Vaters auf der Erde und entdeckte, dass er noch nicht ganz tot war. Daraufhin schoss er noch dreimal auf meinen Vater und fluchte dabei. Alle lagen auf dem Boden: tot, halbtot, verletzt. Said-Amin  blutete stark am Kopf. Ein Soldat riss ein Kissen aus unserem Bett, packte Said-Amins Kopf in das Kissen  und schleppte ihn so aus unserem Haus. Ich glaube, Said-Amin konnte kaum atmen, weil sein ganzer Kopf in dem Kissen steckte. Ruslan durfte noch meinen toten Vater in unseren Hof tragen. Er legte ihn neben unseren Brunnen auf eine Holzkiste. Dann mussten meine Brüder – jeder in einen anderen Jeep – einsteigen und sie  fuhren mit den Mördern und Kidnappern fort -  wohin ? - wissen wir nicht. Meine Schwester und ich kümmerten uns um unsere Mutter, die in dieser Nacht ihren Verstand verlor.

Auch mein kleiner Neffe Musa musste diese Verbrechen miterleben. Das ist nicht gut für ein Kind.

Madina hat am nächsten Morgen die russischen Machtstrukturen von Urus-Martan  über den Mord an meinem Vater und die Verschleppung meiner Brüder informiert und alles genau geschildert, was in unserem Haus vorgefallen ist und man hat uns gesagt, man würde sich darum kümmern. Madina hat drei Tage später noch alle Unterlagen, die ich auch hier dabei habe, zum russischen Kommandanten gebracht. Es sind jetzt vier Wochen seit dieser Unglücksnacht vergangen. Wir haben noch keine Hinweise bekommen und wir befürchten, dass wir auch von denen nichts erfahren werden, so wie es ja immer ist.

Meinen Vater haben wir am nächsten Tag beerdigt. Meine Brüder, die aus Sernovodsk kamen (sie sind 28 und 16 Jahre alt), haben große Sorgen, dass sie auch abgeholt werden könnten. Sie sind jetzt in Inguschetien, weil sie dort größere Sicherheit haben. Der Mann meiner Schwester Madina ist im Februar 2000 an einer Blutvergiftung gestorben. Wir sind jetzt ohne Männer Zuhause. Das wissen die russischen Soldaten auch. Vielleicht lassen sie uns in Ruhe, oder auch nicht.

Ich bin hier, um Sie zu bitten, uns zu unserem Recht zu verhelfen, dass wir Anklage wegen Mordes an unserem Vater erheben und dass gefahndet werden soll nach unseren verschwundenen Brüdern. Vielleicht sind sie beide schon tot oder nur Said-Amin“.

 

Das war der Bericht von Chanifa. Sie hatte alles auf viele Papierbögen aufgeschrieben und Fotos von ihrem Vaters und von ihren Brüdern mitgebracht. Usam nahm die Unterlagen in Empfang und besprach mit ihr, was Memorial für die Aufklärung und Untersuchung tun kann und wird.

Chanifa sah mich an, als sie sich verabschiedete, lächelte und sagte: „Wenn du das nächste Mal wieder hier bist, besuch uns in Urus-Martan. Wir würden uns sehr freuen, wenn du unser Gast bist“.

 

Jetzt bin ich ihr Gast, bin in diesem Haus, in dem der Mord und die Gewalttaten verübt wurden, in diesem Haus, das Zeugnis gibt von der Fortsetzung des Krieges „mit anderen Mitteln“: von der sog. „Anti-Terroristischen- Operation“, die die russische Regierung gegen tschetschenische Zivilisten mit Billigung der Weltgemeinschaft gegen alle Vereinbarungen zur Verhütung und Bestrafung von Völkermord seit September 1999 offen und ungestraft durchführen lässt:

aus niedrigsten Instinkten heraus Menschen töten, ein Volk erniedrigen, demütigen; am liebsten ganz, total auslöschen... wenn das möglich ist. Vieles, zu viel ist in diesem Krieg möglich, weil alles erlaubt ist, was der Vernichtung, der Ausrottung menschlichen Lebens in Tschetschenien dient. „Erlaubt ist, was gefällt“ – und es gefällt den russischen Soldaten, die tschetschenischen „Untermenschen“ zu quälen, zu foltern, zu ermorden ... und sich über die eigenen „Erfolge“ zu freuen, stolz darauf zu sein. „Bespredel“ nennen die Russen diese Taktik, die sog. „Säuberungsaktionen“, die angeblich dazu dienen, versteckte Terroristen aufzuspüren.

Die russischen Soldaten sind selbst Opfer ihrer eigenen Politik geworden.

 

Chanifa freut sich sehr. Wir umarmen uns. Ich hatte ihr damals versprochen, sie in Urus- Martan zu besuchen. Ich bin so froh, dass ich das Versprechen einlösen kann.

Wir können nicht sehr lange bleiben, denn vor Eintritt der Dunkelheit müssen wir wieder in Grosny sein: Ausgangssperre.

Zarema, die Mutter,sitzt in einem alten Sessel. Sie sieht uralt aus. Eigentlich ist sie erst 48 Jahre alt. Aber in Wirklichkeit ist sie schon nicht mehr lebendig. Sie war es noch vor dem 19. April 2001: gesund, kräftig und immer beschäftigt, für alles verantwortlich. Mit 19 Jahren hat sie Magomed geheiratet, mit 20 Jahren ihren ersten Sohn Adlan bekommen, der jetzt 28 Jahre (und immer noch nicht verheiratet) ist; dann kam ihre Tochter Madina auf die Welt, dann wurde Said-Amin, dann Chanifa, dann Ruslan und zum Schluss Islam, der jetzt 16-jährige geboren: eine große, normale Familie. Jetzt scheint Zarema  verwirrt zu sein. Sie kann sich an unserem Gespräch nicht beteiligen. Madina ist 26 Jahre alt und ist die „Frau des Hauses“. Chanifa, 21 Jahre, alt hilft ihr. Der kleine sechsjährige Musa beobachtet uns aufmerksam aber schweigend. Das, worüber wir sprechen, ist trostlos; trotzdem ist es wichtig für die beiden Frauen und für mich.

Von der russischen Administration haben sie bisher nichts in Erfahrung bringen können. Es seien keine Spuren von den verschleppten Brüdern gefunden worden. Man wisse auch nicht, um welche Soldaten es sich bei dem Überfall gehandelt habe.

 

Ihre Brüder haben sie weder lebendig, noch tot wiedergesehen. Nicht zu wissen, wo sie sind, was mit ihnen passiert ist, ob sie in einem „Filtrationslager“ gefoltert wurden oder noch werden, ob ihre leblosen Körper irgendwo von Hunden angefressen liegen oder von guten Menschen beerdigt wurden, dieses Grübeln, diese Ungewissheit beschäftigt die beiden Schwestern sehr. Die Mutter ist an diesen Gedanken seelisch „gestorben“. Adlan und Islam sind mit der Familie ihres Onkels im Flüchtlingslager „Sputnik“ in Inguschetien untergebracht. Manchmal kommen sie zu Besuch und bringen dann auch Lebensmittel mit. Sie bleiben aber nie lange, weil sie Angst haben, dass das, was mit ihren Brüdern passiert ist, ihnen auch passieren könnte.

Adlan ist immer noch nicht verheiratet. Das bedrückt die beiden Schwestern. Der älteste Bruder muss als erster heiraten, damit die darauffolgenden Brüder auch heiraten dürfen. „Es gibt genug hübsche Mädchen“, sagt Madina, „unsere Eltern hätten sich darum schon gekümmert, wenn ...“ Ja, wenn ... Nun kümmert sich keiner um eine Frau für Adlan. Die Schwestern dürfen das nicht. Zum Glück ist Islam, der letzte Bruder,  erst 16 Jahre alt. Aber Chanifa hat das richtige Alter zum heiraten. Da gibt es auch keinen, der sich um den passenden Ehemann für sie bemüht.

Brot, Käse, Eier und ein Schälchen mit Honig und vorzüglicher Konfitüre für den Tee

stehen auf dem Tisch. Salina, Rustam und ich freuen uns über die Köstlichkeiten. Madina und Chanifa beteuern, sie hätten schon gegessen ... und schauen uns bei unserem Schmausen vergnügt zu. Ob sie Sorge haben, dass das Essen nicht für alle reichen könnte?

 

Chanifa fährt einige Male im Monat mit dem üblichen klapprigen Bus nach Inguschetien. Hier trifft sie ihre Brüder und Verwandte, bleibt kurze Zeit im Flüchtlingscamp, bringt immer etwas Nützliches nach Hause zurück (das, was ihre Tante für Zarema, für Madina, für den kleinen Musa oder für sie selbst  „organisiert, gehamstert“ hat) und vergisst nie, im „Memorial-Büro“ in Nasran nach „neuen Erkenntnissen“ nachzufragen. Die „neuen Erkenntnisse“ sind immer die alten: nichts weiß man – weder über die Täter, noch über den Verbleib beider Brüder. Leichen und Leichenteile werden immer wieder an verschiedenen Orten aufgefunden. Meist können sie nicht mehr identifiziert werden. Die Memorial-Mitarbeiter/innen legen Chanifa immer alle neuen Fotos  von aufgefundenen, unbekannten Toten (bzw. was davon noch übrig ist) vor, auch Fotos von Kleidungsstücken, die man keinem Toten zuordnen kann. Chanifa ist sich sicher: kein Foto brachte sie auf die Spur ihrer Brüder. Fast zweieinhalb Jahre sind seit diesem Donnerstag im Jahr 2001 vergangen. Nicht vergangen sind die Spuren, die Erinnerungen, die Tatsachen: der Tod oder das Leben der Opfer. Es gibt keine „Tagesordnung“, zu der man „zurückkehrt“, keine Normalität mehr. In dieser Familie -  wie in zehntausend anderen tschetschenischen Familien -  hat der Krieg sich in die Körper, die Herzen, in das tägliche Leben der Menschen eingenistet ... er ist allgegenwärtig da. Immer. Unauslöschbar. Die Frage nach der Zukunft wird von dem Leiden in der Gegenwart und von den schlimmen Erfahrungen aus der Vergangenheit verdrängt. Es gibt keine Träume, keine Hoffnungen, keine Wunder. Chanifa und Madina lächeln hilflos und beantworten meine Frage nach ihren Wünschen, nach der Zukunft nicht. Sie lächeln scheu und sagen nichts. Was sollen, was können sie sagen? Ja, Angst haben sie. Jeden Tag und jede Nacht. Und ich denke: die, die noch Angst verspüren, sind noch lebendig. Die, die keine Angst mehr haben, weil sie schon viel zu viel erleiden mussten und dieses Leid nicht mehr übertroffen werden kann, sitzen still in einem alten Sessel, stieren auf einen Punkt im Zimmer, nehmen scheinbar nichts mehr wahr ... und haben deshalb auch keine Angst, vor nichts und niemandem. Weil sie schon „abgestorben“ sind, wie Zarema. Wie geht es dir, Zarema, will ich am liebsten fragen. Ich tue es nicht, natürlich nicht. Was weiß, was fühlt sie? Vielleicht ist sie ganz leer innerlich, spürt nichts mehr; dann ist das Leben und das, was davon übrig geblieben ist, mit ihr noch gnädig. Ich wünschte es ihr so sehr!

 

Beim Anblick dieser kleinen Familiengemeinschaft in diesem Haus bitte ich meinen Gott und Allah, ER möge sich ganz besonders diesen Menschen annehmen. Ich habe sie IHM anvertraut mit dem Aufruhr und Zorn und der Liebe meines ganzen Herzens.

 

 

Wir müssen uns auf den Heimweg machen. Rustam drängt. Wir nehmen Abschied voneinander. Ohne Tränen – mit viel Nähe und Herzlichkeit. Was die Zeit uns bringt, wissen wir nicht. Wenn es wieder möglich ist, komme ich nach Urus-Martan. Im nächsten Jahr. Bestimmt. Ein Winken, ein Zurückschauen... , dann: aus den Augen verloren. Nicht mehr sichtbar – aber fühlbar. Schmerzlich spürbar. Unendliche Trauer breitet sich in unserem Auto aus.  Die Frage: Warum? Wozu? Welchen Sinn, welchen Zweck hat das Leid, unverdient, schicksalhaft über diese einfachen, unschuldigen Menschen ausgebreitet, über ein ganzes Volk, über ein ganzes Land, über eine ganze Kultur – generationsübergreifend seit Jahrhunderten aufgedrückt... ? Warum? Wozu?   Wir haben keine Antwort. Aber ich weiß, ich weiß es genau: ich werde diese Fragen immer wieder stellen und nicht aufhören, das Stillschweigen, das Zugucken und Weggucken, das Gewährenlassen und das  „kluge diplomatische Geschwätz“ zu stören, zu durchbrechen, es an den Pranger zu stellen. Das wenigstens kann ich für meine Freunde tun, für Zarema, für ihren ermordeten Mann, für ihre verschleppten und wahrscheinlich auch getöteten Söhne und für die, die noch da sind: denen es morgen genauso ergehen kann, wie  Chanifa und ihrer Familie am Donnerstag, den 19. April 2001 in Urus-Martan in Tschetschenien.

 

Die Rückfahrt nach Grosny im Regen, die Wartezeiten an den fünf „block-posts“, das martialische Verhalten der Soldaten, die finsteren Kontrollblicke ins Innere unseres Autos: da sitzt nur eine alte Frau, eine „Waynaschka“: ich fühle mich angesichts dieser Wirklichkeit schlecht, einfach schlecht. Hilflos, voller Wut Trauer, Entsetzen und Gefühle liebevoller Anteilnahme für meine Freunde denke ich: am liebsten würde ich aussteigen, sie alle anschreien, die sich als Herrenmenschen aufspielen, ihnen sagen: ich bin Deutsche, ich weiß, was Faschismus bedeutet, verhaftet mich, ich will für euch zum „Problem“ werden, informiert Eure Kreml-Freunde, dass Ihr eine Deutsche in Gefangenschaft genommen habt! Töten werden sie mich wahrscheinlich deshalb nicht, weil ich Ausländerin bin. Dann werden die „diplomatischen Drähte“ zwischen Moskau und Berlin heiß laufen , dann werde ich verhört, dann werde ich sagen, was ich weiß, was ich sehe, was ich höre, dann werde ich anklagen, zur Rechenschaft ziehen ... ich muss die „Weltöffentlichkeit“ alarmieren ... 

nichts werde ich tun.

Wir fahren weiter. Ich träume davon, wie es wäre, wenn ich könnte, wie ich wollte. Ich kann aber nicht. Nie und nimmer darf ich Salina und Rustam gefährden. Ihnen und ihren Familien würde es weitaus schlechter ergehen als mir.

 

Wir müssen uns beeilen. Es gibt keine Straßenbeleuchtung in Grosny. Wenn es dunkel ist,  wird es gefährlich. Die Nacht gehört den tschetschenischen Rebellen. Russisches Militär schießt dann auf alles, was sich bewegt. Wir erreichen unser heutiges Nachtquartier rechtzeitig. Wir sind Gäste bei einer Familie, die ich auch schon lange kenne: sie wohnt in einem Häuserblock, der schon an das Stromnetz angeschlossen ist. Das heißt nicht, dass es immer Strom gibt. Meistens nicht. Aber heute haben wir Glück. Wasser muss man an den bekannten Wasserstellen mit Eimern holen. Wenn es keine Brunnen in der Umgebung gibt, bringt ein Tankwagen dreimal in der Woche das Wasser in die Straßen. Es ist kein Trinkwasser. Zum Waschen und Putzen wird es gebraucht. Trinkwasser müssen die Leute in Plastikflaschen auf dem Markt kaufen.

Die Freude über unseren Besuch ist groß; vor allem die Kinder, die natürlich wieder toll gewachsen sind, springen fröhlich um uns herum. Der Tisch ist gedeckt, die Ehebetten für Salina und mich sind frisch bezogen, alles ist für uns bestens vorbereitet. Die Gastfreundschaft der Tschetschenen ist unbeschreiblich! Sie geben alles her, sie machen alles möglich, damit der Gast sich wohl fühlt. Für sie ist es eine Ehre, eine Auszeichnung, wenn sie Gäste aufnehmen dürfen. Ich fühle mich nicht immer gut dabei, weil es mir manchmal  peinlich ist, wenn sie durch meine Anwesenheit z.B.  auf ihr Bett verzichten. Ich weiß, ich muss anders denken, so, wie sie es empfinden; dann kann ich es annehmen.

 

Wir sitzen am Tisch, essen den leckeren Kartoffelpüree und die Hähnchenkeulen; danach gibt es heißen Tee und Süßigkeiten ... und gucken uns die Nachrichten im Fernsehen an: russisches Fernsehen. Es wird von der „Inauguration“ Achmad Kadyrows berichtet, von der offiziellen Einführung in sein Amt als Präsident der Tschetschenen, heute, am 19. Oktober 2003 . Im ersten Tschetschenienkrieg war er als Mufti (Oberhaupt der islamischen Geistlichkeit) ein entschiedener Widersacher gegen die russische Politik und das russische Militär. Aber das ist eine andere Geschichte: man kann ja die Seiten wechseln, wenn es zum Vorteil gereicht. Der russische Präsident hat das gut erkannt und ihn zum tschetschenischen Präsidenten „gemacht“. Machen heißt: erst einmal „vorbereiten“, das heißt: den Mann testen und in einem Referendum das Volk bestimmen lassen, dass es eine neue Verfassung haben möchte und ein neuer Präsident auf diese Verfassung hin gewählt werden soll. Die Annahme des Referendums durch das tschetschenische Volk war schon beschlossene Sache, bevor es wählen konnte; die Wahlbeteiligung war höher, als  die Anzahl der Wahlberechtigten. Ich war am „Tag des Referendums“ am 23. März 2003 in den Flüchtlingslagern in Inguschetien; ich habe genau mitbekommen, wie die Tschetschenen dort und in ihrem eigenen Land über die Abstimmung des Referendums gedacht und gesprochen haben. Nachdem in Moskau alle Gegenkandidaten „ausgeschaltet“ waren,  konnte natürlich mit großer Mehrheit am  5. Oktober 2003 Achmad Kadyrow zum Präsidenten gewählt werden: natürlich ohne OSZE-Beobachtung, ohne Anerkennung der Grundsätze für freie, unabhängige und

demokratische Wahlen. Nun haben die Tschetschenen einen Präsidenten, den sie mehrheitlich nicht gewählt haben, den sie mehrheitlich ablehnen und der nicht der Repräsentant ihres Vertrauens ist. Aber Kadyrow hat das volle Vertrauen und die Unterstützung des russischen Präsidenten Putin.

 

Die heutigen Feierlichkeiten fanden nicht in Grosny statt, sondern in Gudermes: aus „Sicherheitsgründen“, wie der Nachrichtensprecher ausführte. Gudermes ist die Stadt, in der Kadyrow lebt und die er 1999 widerstandslos den Russen übergab. Sie sollte die neue Hauptstadt von Tschetschenien werden. Doch das war nur ein untauglicher Versuch der russischen Administration.

 

Zurück zum Fernsehbild:

reden, klatschen, verbeugen, Blumen überreichen durch nett angezogene Kinder, dann die Ansprache  von  Achmad Kadyrow, dem „bestätigten“ Präsidenten der Tschetschenen, dem nicht rechtmäßigen Nachfolger von Aslan Maschadow:

Er sagt wörtlich:

 

„Putin sagte, wir müssen die Terroristen sogar auf der Toilette töten,

und ich sage, wir müssen die Terroristen schon im Mutterleib

(in der Gebärmutter) töten,

denn wenn sie einmal das Licht gesehen haben und ihre Flügel ausgebreitet haben, ist es zu spät“.

 

Im russischen Sprachgebrauch wird häufig, fast schon regelmäßig für das Wort „Tschetschene“ der Begriff „Terrorist“ verwendet: Tschetschene = Terrorist; die „Schwarzen“, die Kaukasier in Moskau sind für die Polizisten grundsätzlich (potentielle) Terroristen, Banditen, Kriminelle. Kadyrows Aufforderung, die Terroristen schon im Mutterleib zu töten, versteht der Tschetschene als Aufforderung zur Ausrottung des ganzen Volkes. Kadyrow  ist  selbst Tschetschene. Umso empörter und verletzter reagieren die Tschetschenen auf Kadyrows Worte.

 

Wer ist Terrorist? Welcher Russe, welcher Tschetschene? Sind alle Russen von Rechts wegen beauftragte oder zumindest geduldete Terroristen, wenn sie gegen die Tschetschenen kämpfen? Was anderes als Terroranschläge sind die „Säuberungsaktionen“, die „Bespredel“? Sind alle Tschetschenen Terroristen, nur weil sie Tschetschenen sind? Chanifas Familie in Urus Martan, ist das eine Familie von Terroristen? Ist die russische Tschetschenienpolitik Staatsterror und der größte Terrorist im Kaukasus Herr Putin selber? Natürlich gibt es tschetschenische Terroristen; einer und der schlimmste von ihnen ist Schamil Bassaev, den ich kenne, in dessen Wahlbezirk 51 ich am 27. Januar 1997 zufällig Wahlbeobachterin der OSZE  war und der zu einem der größten Widersacher des damals legitim gewählten Präsidenten Aslan Maschadow wurde. Wer darf wen Terrorist nennen? Diese Fragen müssen erlaubt sein. Sind Terroristen erst dann Terroristen, wenn sie Terroranschläge ausführen oder auch schon dann, wenn sie Terror zulassen, möglich machen oder unterstützen?

 

Am 18. April 2002 erklärte der russische Präsident Putin das „militärische Stadium“ in Tschetschenien für beendet. Der Krieg geht weiter als „Anti-Terroristische Operation“ mit  Militär: die „Föderalen Truppen, die OMMON -Truppen, die SOBR = Spezialtruppen, Soldaten des Militärgeheimdienstes = GRU, ca. 22.000 Angehörige des Geheimdienstes FSB und des Innenministeriums, die Kontraktsoldaten und – nicht zu vergessen: die persönliche Leibgarde des tschetschenischen Präsidenten Achmad Kadyrow. Ihre eigentlichen Gegner sind die ca. 3000 tschetschenischen Terroristen in den Bergen; aber ein ganzes Volk wird in „Sippenhaft“ genommen. Zivilisten und völlig Unschuldige werden ermordet, um Rache, Hass und Frustration

zu kompensieren.

 

Die Gewaltspirale wächst immer weiter, wird größer und länger, brutaler und vernichtender, wenn nicht endlich, endlich einer diesen Wahnsinn stoppt:

das kann nur der russische Präsident Wladimir Putin.

Es gibt Vorschläge, Pläne, Entwürfe, wie das geschehen könnte.

Man muss es wollen: das Ende des tschetschenischen Volks-Mordes.

Man muss dieses Ende nur wirklich und aufrichtig und intensiv wollen.

Wege für den Friedensprozess gibt es. Menschen, die ihn mitgestalten wollen, es gibt sie: Russen, Tschetschenen, Freunde in allen Ländern. Politiker, die mit dem russischen Präsidenten befreundet sind, haben hierbei eine besondere Verantwortung.

 

Die Tschetschenen, die noch nicht vom Bazillus der Rache angesteckt sind – und das sind neunundneunzig Komma neun Prozent des Volkes – wollen FRIEDEN.

Sie haben den Krieg satt; sie haben in ihrem Leben, in ihrer Geschichte zu viele Kriege und Vertreibungen durchlitten. Ihre Kinder sollen auch einmal ein Leben ohne Angst, ein Leben mit Zukunft, ein Leben in Frieden kennen lernen.

 

 

Madinas kleiner Sohn Musa weiß noch nicht, was FRIEDEN ist; er weiß, was KRIEG bedeutet. Er weiß noch, wie die russischen Soldaten seinen Großvater erschossen, seine beiden Onkel schlugen, traten und dann verschleppten, er weiß, wie die Großmutter schrie und in Ohnmacht fiel, wie seine Mutter weinte und seine Tante vor Angst zitterte. Er weiß, wie groß seine eigene Angst war.

Musa wird es nie vergessen. Er war sehr jung, vier Jahre alt, als das geschah; aber er war schon zu alt und zu groß, um sich nicht mehr erinnern zu können.

Zarema, seine Großmutter spricht nicht mehr mit ihm, streichelt ihm nicht mehr über den Kopf, backt ihm keinen Kuchen mehr. Seit diesem Tag, dem Donnerstag im April 2001 hat eine „Anti-Terroristische Operation“ seiner Großmutter die Seele, das Herz herausgerissen.
                                      Heute ist Musa sechs Jahre alt.

Zum Glück - als Tschetschene geboren -.

Er wurde nicht im Mutterleib getötet.

Das Licht hat er schon gesehen,

doch seine Flügel konnte er noch nicht ausbreiten.

 

Das kann er erst, wenn er sich - überall in seiner Heimat - frei, unbeschwert und sicher fühlt, wenn er jeden Berg und jeden Fluss mit Namen kennt und die Lieder und Tänze seiner Vorfahren lernt, wenn er die russischen Nachbarn zum Tee einlädt und dem Fremden in seinem Haus einen Schlafplatz anbietet;

...  wenn er keine Angst mehr haben muss – vor niemandem, auch nicht vor den eigenen Leuten aus den Bergen.

 

Das wünsche ich Musa und all den jungen, kleinen Tschetschenen, den Mädchen und Jungen, die mir auf meine Frage, was sie sich wünschten, antworten: FRIEDEN.

Und sehr genau können sie den FRIEDEN beschreiben, obwohl sie ihn noch nicht kennen gelernt haben: sie erzählen einfach von ihren Träumen, Sehnsüchten, Wünschen, von all dem, was sie noch nicht erlebt haben und was so gut, so schön. so notwendig, so gesund und ... normal ist.

Es wird Zeit, dass Musa und alle Kinder das alles - den FRIEDEN - kennen lernen!

 

 

 

Salina und ich legen uns am Ende des langen Tages in das bereitgemachte Ehebett

unserer Gastfamilie. Kalte Füße, zu viel gegessen, der Kopf und das Herz voller Eindrücke: wir können nicht einschlafen.

Wir albern herum, kichern, lachen, prusten. Wir können uns nicht darauf einigen, wer in diesem Ehebett der männliche, und wer der weibliche Teil sein soll. Wir beide wollen unbedingt den Ehemann spielen: „Geh, hol mir  noch ein Stückchen Kuchen und bring die Wasserflache mit!“ Keine „Ehefrau“ läuft in die Küche. Wir beide sitzen fröhlich im Bett und versuchen, uns gegenseitig in die Küche zu schicken. Keine will „Untertan“ sein. Das Albernsein tut gut, entspannt. Wir spielen Theater. Wir erholen uns. Da geht leise die Schlafzimmertür auf und mit Kuchen und Wasserflasche kommt Maka herein, unsere Gastgeberin, die echte Ehefrau. Wir machen ihr Platz in unserem Bett, schwatzen, lachen, essen und trinken ... und lassen den Tag vergehen mit den „block-posts“,  mit Kadyrow, mit dem Besuch in Urus Martan, mit den Tränen vorhin und dem Lachen jetzt ...

 

... morgen werde ich wieder eine „Waynaschka“ sein, das weiß ich. Mehr nicht.