Bericht von der Reise nach Tschetschenien 2003  

Barbara Gladysch

 

 

 

 

 

Swodotschka – „Kleiner Stern“

nannten wir das erste Rehabilitationszentrum für traumatisierte Kinder

im Januar 1997 in Grosny –

wir: das sind mein Freund Chris Hunter (ein englischer Quäker),

tschetschenische Freunde und ich.

 

Da gab es die Wüste in Grosny: nach dem ersten Tschetschenienkrieg;

die Wüste aus Geröll, Steinen, Kriegsabfällen wie zerstörte Panzer,

verbrauchte Munition, versteckte Minen, Ruinen – so weit das Auge reicht.

Ein Platz auf dieser Erde, eine Stadt, die zur Unbewohnbarkeit zerbombt, zerschossen, zerstört wurde ... eine zur Steinwüste verkommene Stadt: Grosny – die Schreckliche.

Mitten in dieser Trostlosigkeit und Brutalität: Menschen, Tiere: nach dem Sinn ihres Daseins, Lebens fragend, suchend ...

darunter Kinder, ernste kleine Gesichter, die stolpernd zwischen Geröll

nach Verwertbarem suchend sich misstrauisch, leise entfernen.
Kinder, die der Krieg übrig gelassen hat,

verwundet, verletzt, gezeichnet:

in der Wüste der Beziehungslosigkeiten, der traurigsten Einsamkeit,

der Wehklagen und lautlosen Schreie.

 

In diese Wüste setzen wir den „Kleinen Stern“ .

In Grosny – für alle Kinder dort.

Der „Kleine Stern“ gab Licht und Wärme, Geborgenheit.

Er war Wegweiser, funkelte immer wieder lustig und aufmüpfig und

wurde ein verlässlicher Freund für viele, viele Kinder in Grosny.

In der Einrichtung des „Kleinen Sterns“ haben Kinder wieder das

Lachen zurückgefunden, ihre Sprache wieder erkannt und verstanden,

den Regenbogen gemalt und das Wort: FRIEDEN neu entdeckt ...

 

bis Ende 1999 zum zweiten Mal Bomben auf die Ruinenstadt fielen,

Menschen wieder und weiter erschossen, ermordet, getötet wurden,

Kinder um ihr kleines Leben rannten, 

sich vor den tödlichen Waffen und ihren Benutzern versteckten,

vor den Todesurteilen und deren Vollstreckern flohen,

in die Nachbarrepublik – nach Inguschetien – in die Flüchtlingscamps,

in die riesengroßen Zeltstädte von 100.000 Flüchtlingen –

in die Sicherheit, in den Schutz der Freunde.

 

 

Das Licht vom „Kleine Stern“ in Grosny wurde von Granaten ausge-

löscht. Die Räume der Gebäude von destruktiven, aggressiven, wahrscheinlich betrunkenen russischen Soldaten, die fast selber noch Kinder sind, zerstört, die Fußböden mit Spitzhacken aufgerissen, Wände, Türen und Fenster wurden eingerissen und an einer Wand

ist heute noch zu lesen: „Go to the hell“ – Geht zur Hölle!

Wer?

Die Kinder?

Die Soldaten?

Grosny selbst ist die Hölle geworden – für alle.

Auch für die, die zerstören und daran Gefallen finden.

Da, wo unsere Kinder im Freien um das Gebäude gespielt haben, liegen  - versteckt - eine Menge Minen.

Auch in unmittelbarer Nähe von Schulen und Häusern mit kinderreichen Familien sind sie versteckt.

 

Grosny heißt mit Recht: die Schreckliche!

 

In den Flüchtlingslagern bauten wir Kinderzelte auf – Kinderzelte sind

große Zelte für Kinder – „Kleine Stern“- Zelte.

Sie gibt es heute in jedem Flüchtlingslager für alle Kinder.

Sie sind  Mittelpunkt, Treffpunkt für die Flüchtlingskinder der

camps: hier wird gespielt, gemalt, gesungen, getanzt, erzählt und zugehört, gelacht und getröstet ...

hier gibt es die Aufmerksamkeit für Kinder, die sie beim Großwerden brauchen.

Viele „Kleine Sterne“ leuchten in den Flüchtlingslagern in Inguschetien genauso wie in den Ruinenräumen in Tschetschenien.

 

Denn auch in Grosny haben wir wieder „Kleine Sterne“ an über 25 ver-

schiedenen Stellen in der Stadt verteilt: „Kleine Stern-„ points nennen  wir sie.

Es sind liebevoll eingerichtete, kleine provisorisch wiederhergestellte

Räume in Ruinen, die die Kinder eines jeden Stadtteils aufsuchen können. Sie sollen keine weiten Wege haben, denn überall gibt es für Kinder Gefahrenquellen in dieser Stadt, vor allem die tückischen, gefährlichen Minen.

Im „Kleinen Stern“ gibt es Spielzeug, Bastelmaterial, Bücher, ein Akkordeon oder eine Gitarre, Farbstifte und Papier, Bälle und Kuscheltiere ...

hier gibt es Zeit, Raum und Zuwendung für Kinder.

 

 

 

 

Swodotschka – „Kleiner Stern“:

alle diese „Kleine – Stern“ Zelte und „points“ kenne ich; ich habe sie

alle besucht, ich kenne alle die wunderbaren Männer und Frauen (meist sind es Frauen), die die Kinder betreuen, die Freunde, Freundinnen und Vertraute der Kinder sind. Sie haben Zeit, sie geben Ruhe und Sicherheit, sie sind immer ansprechbar ... und sie verstehen was von Kindern: von ihren Träumen, Ängsten, ihren Begabungen und Problemen; jedes Kind findet seine eigene Beziehung zu seiner

Betreuerin oder zu seinem Betreuer.

Die Eltern, vor allem die Mütter, kommen manchmal auch in die Zelte oder in die verwinkelten Räume vom „Kleinen Stern“ in Grosny, um sich

zu unterhalten, um sich Rat und Trost zu suchen oder Unterstützung zu erbeten für die Familie.

 

Manchmal muss auch ein Stern, der leuchten soll, „aufgeladen“ werden;

das ist dann meine Aufgabe, wenn ich dort bin.

 

„Man ist zeitlebens für das verantwortlich, was man sich vertraut gemacht hat“, sagt der Kleine Prinz zum Fuchs.

Ich hab mir die Kinder vom „Kleinen Stern“ vertraut gemacht und sie

haben sich mir vertraut gemacht“ – also bin ich verantwortlich für sie.

 

So einfach ist das.

 

Und wenn ich abends am Himmel kleine Sterne funkeln sehe, denke ich mit Wärme und Freude an die Kinder vom „Kleinen Stern“.

Und wenn in Tschetschenien oder in den Flüchtlingslagern die Kinder abends die Sterne leuchten sehen, dann treffen sich unsere guten Wünsche und Grüße. So sind wir miteinander durch die „Kleinen Sterne“ am Himmel verbunden.

 

So einfach ist das.

 

Wir wissen voneinander und von unserem Geheimnis.

Swodotschka – „Kleiner Stern“: Kraftquelle für die Kinder und ...

auch für mich.

Denn auch hier, bei uns gibt es die Wüste ... und dann helfen mir

die Kinder im Kaukasus, dass ich nicht erfriere oder verdurste oder

die Spuren im Wüstensand nicht mehr finde.

DANKE an die Kinder vom „Kleinen Stern“.

                  

                                                                                  Barbara Gladysch

 

 

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Flüchtlinge

 

Nach Angaben von UNHCR haben zu Beginn des 2. Krieges

586.449 Bürger ihr Land Tschetschenien  als Flüchtlinge verlassen.

Sie sind in Nachbarregionen,  auch nach Russland zu Verwandten –

aber in erster Linie nach Inguschetien geflohen. Inguschetien hat über 200.000 Menschen aufgenommen.

Es gibt hier riesengroße Zeltstädte, Flüchtlingslager mit 5000, 8000 und 10.000 tschetschenischen Flüchtlingen.

Es gibt weitere Unterbringungsmöglichkeiten: leerstehende Fabrikhallen, Viehställe (Gebäude der ehemaligen Kolchosen), Hütten und Baracken und in den Jahren 2000 und 2001 gab es Eisenbahnzüge auf Abstellgleisen, in denen 4.700 Menschen, darunter 1.350 Kinder unter     6 Jahren in 76 Waggons lebten.

Einige der Flüchtlinge fanden auch Unterkunft in Privatquartieren.

Die Flüchtlinge, die auf russischem Terrain bleiben (wie es nach der

„Sprachregelung“ für die Tschetschenen zutrifft, sind sog. IDPs,

Involuntarily Displaced Persons =  Binnenflüchtlinge; sie müssten vom russischen Staat versorgt werden.

In den Zeltcamps gibt es – nach anfänglichen Schwierigkeiten –

Gasleitungen, von denen Abzweigungen zu den einzelnen Zelten

zum Heizen und Kochen gelegt wurden. Strom kam viel später hinzu. Jedes Lager hat zwei bis drei Wasserstellen; am Rand der Lager sind

einige wenige Toilettenhäuschen aus Holz aufgestellt.

In jedem diese großen Flüchtlingslager gibt es seit drei Jahren Schulen für die Flüchtlingskinder. Es sind entweder große Zelte mit Schulmöbeln von UNICEF und einem Gasofen in der Mitte oder auch schon Holz- schulen mit Parterre und einer Etage. In den Schulen wird in zwei oder drei Schichten unterrichtet; die Lehrer/innen sind ebenfalls Flüchtlinge.

In allen Flüchtlingslagern gibt es auch „Kinderzelte“ sog. „Kleine Stern“-

Zelte, in die alle Kinder des Lagers hingehen können, um dort ungestört „Kind -sein“ zu dürfen.

Alle UN-Organisationen und NGOs haben ihre Büros in Nazran (Ingu-

schetien); sie kennen deshalb die Flüchtlingssituation in Inguschetien sehr genau; allerdings gibt es in Tschetschenien keine internationalen Hilfsorganisationen – auch keine UN- oder OSZE- Niederlassung -.

Der Grund hierfür ist die weiterhin aktuelle und  akute Gefahrenlage in Tschetschenien.

Die humanitäre Arbeit für die Bevölkerung in Tschetschenien wird in Nazran von den „internationals“  vorbereitet und von lokalen Mitarbeitern in Grosny und in den Dörfern durchgeführt.

 

 

Seit Ende 2002 werden die Flüchtlinge – vor allem diejenigen, die in Zelten leben – nicht nur aufgefordert, nach Tschetschenien zurückzukehren, sondern dazu gezwungen, indem man ihnen das Gas und  Wasser in den Zeltcamps abstellt.

Bei dieser „sog. freiwilligen Rückkehr“ arbeiten drei maßgebliche Institutionen zusammen:

die russische Flüchtlingsbehörde in Moskau,

die inguschetische Flüchtlingsbehörde in Nazran und

die neue, angeblich von den Tschetschenen selbst gewählte Präsidentenadministration von Kadyrow in Grosny.

Alle drei führen das aus, was der russische Präsident Wladimir Putin

erwartet und für seine Wiederwahl dringend braucht:

Normalität in Tschetschenien.

Proteste der internationalen Organisationen und Verbänden sind

unwirksam, da die Flüchtlinge IDPs sind und in Tschetschenien „alles gut vorbereitet“ ist für ihre Heimkehr.

Sie würden zurückgehen – auch in Ruinen und Bretterverschlägen leben, wenn sie Sicherheit hätten: Sicherheit, dass ihnen kein russischer

Soldat etwas antut; erst wenn der letzte Russe das Land verlässt, kehren sie mit großer Freude zurück in ihre Heimat. Solange sie Angst vor den russischen Mörderbanden haben, verweigern sie die Rückkehr.

Eines der größten Zeltlager „Bella“  wurde innerhalb einiger Wochen total geräumt: auf dem großen weiten Platz stehen jetzt nur noch die kleinen Toilettenhäuschen und ... die Holzschule. Daneben - verbarrikadiert und  tief in die Erde eingegraben liegt ein  russischer Militärposten von ca. 100 Soldaten.  Zum Schutz für die Flüchtlinge sind seit dem 11. September 2001 vor jedes Flüchtlingslager in Inguschetien solche Militärposten stationiert worden.

 

Im Oktober dieses Jahres (2003) konnte ich nicht mehr ungehindert mit meinen tschetschenischen Begleitern in die verschiedenen Flüchtlings-

lager – wie früher - sondern ich musste mir für jedes Camp von der

russisch - inguschetischen Flüchtlingsverwaltung in Nazran unter Angabe meiner Gründe und Motive durch persönliches Vorsprechen eine schriftliche Erlaubnis einholen.

Vor allen Flüchtlingslagern, die auf freiem Feld liegen oder umzäunt sind,  gibt es seit September 2003 Absperrungen aus Betonquadern; ebenso Milizen und Soldaten, die jeden Menschen, der in das Lager will, kontrollieren und Namen und Uhrzeit des Eintreffens festhalten.

Es gibt in den Lagern Flüchtlinge, die keinen Besuch erhalten dürfen.

Ihnen wirft man „oppositionelles Verhalten“ vor; die wiegeln angeblich die anderen Flüchtlinge auf, das Zeltlager nicht zu verlassen.

 

Diese Kontrollen vor den Camps werden damit begründet, dass sich angeblich Terroristen in den Lagern verstecken und man die Kontrollmöglichkeiten über alle Lagerinsassen haben müsse.

 

Die Flüchtlinge werden mit solchen Maßnahmen „mürbe“ gemacht.

Außerdem werden z.B. diejenigen, die das Lager „Bella“ und andere Lager verlassen mussten und nicht nach Tschetschenien zurückgegangen sind, sondern sich irgendwo in Inguschetien weiter aufhalten, sie werden nicht mehr als „Flüchtlinge“ registriert, erhalten demnach auch keine humanitäre Unterstützung: keine Nahrung, keine Kleidung, es gibt kein Recht auf Schulbesuch für die Kinder.

Sie sind von der offiziellen „Flüchtlingsliste“ gestrichen.

UNHCR versucht zu intervenieren; hat aber keinen Einfluss.

 

Es soll alles „normal“ sein . Zum „Normal- sein“ passen keine Flüchtlinge.

 

In Grosny gibt es zehn sog. TACs (Temporary Accomidation Center);

das sind große renovierte aber „sehr schlichte“ Gebäude, ehemals Arbeiterunterkünfte für die Ölgesellschaften, in denen bisher insgesamt

ca. 4000 Flüchtlinge untergebracht wurden; 7 Personen leben in einem Raum; Wasser muss man  - wie überall in Grosny – „draußen“ holen; die Toilettenhäuschen hinter dem Haus sind die gleichen wie in den Lagern.

Die Flüchtlinge sind hier registriert und erhalten monatlich Lebensmittel-

zuteilungen, die aber nie reichen.

 

„Kompensationsgelder“ sollten an die Flüchtlinge ausgezahlt werden, die

nachweisen können, dass durch Kriegseinwirkungen ihr Haus total zerstört wurde und sie nirgendwo anders leben können.

Bisher konnte man nicht mehr als hundert Menschen diese Gelder auszahlen; dann war der „Vorrat“ erschöpft.

 

In Tschetschenien- vor allen Dingen in Grosny -  sind fast alle Menschen „Flüchtlinge“, weil alle ihre Wohnungen – zumindest zeitweilig – verlassen mussten. Wovon sie leben, wie sie an Geld kommen, um auf dem Markt, auf dem es fast alles gibt, einzukaufen, weiß ich nicht.

 

 

 

 

 

 

 

 

Tschetschnisierung

 

Das sei die Lösung für das Problem Tschetscheniens und bedeutet:

die tschetschenische Bevölkerung beendet den „Krieg“ auf ihre eigene Weise mit ihren eigenen Mitteln:

die Tschetschenen  bringen sich gegenseitig um.

 

Diejenigen, die Geld verdienen, die einen Job haben, erhalten ihren Lohn in der Regel von der tschetschenischen Administration, weil diese Menschen irgendwie für die Kommune arbeiten, als Straßenkehrer, als Polizist oder  in einem Büro oder als Lehrer in einer Schule.

Alle, die im Dienst von Präsident Kadyrow arbeiten, sind gefährdet, weil sie  (für die Rebellen in den Bergen)  „Kollaborateure, Überläufer, Verräter des tschetschenischen Volkes“ sind.

Die „Kämpfer“ scheuen sich nicht, ihre – manchmal sogar frühren Freunde und Nachbarn – umzubringen.

 

Diejenigen, die sich offen gegen Kadyrow als tschetschenischen Präsidenten stellen, müssen ebenfalls mit Nachstellungen, die tödlich enden können, rechnen: diesmal von russisch-tschetschenischen Schwadronen

 

Egal was ein Tschetschene akzeptiert oder nicht akzeptiert, tut oder nicht tut, egal wie er denkt und lebt ... er lebt immer mit dem Risiko, „bestraft“, „gerächt“, ermordet zu werden, wenn er „etwas Falsches“ sagt oder tut.

 

Deshalb schweigen die Menschen; sie sprechen nicht über Politik, nicht über ihre Familienangehörige; sie trauen selbst eigenen Verwandten nicht mehr ...

und so fängt das Prinzip der „Tschetschnisierung“ an:

Angst, Argwohn und Misstrauen gegenüber den eigenen Leuten ist der Beginn der Selbstzerstörung eines Volkes.

 

Tschetschenien ist irgend wann nicht mehr ein russisches Problem, sondern es wird mit der Zeit zu einem ureigenen Problem der Tschetschenen selbst.

 

Das erhofft sich die Kreml-Regierung in Moskau.   

 

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In der CPCD - Schule „OMEGA 5“ wurde das „ Kinder-Referendum“ von den Flüchtlingskindern verfasst und am 23. März 2003 für die „Öffentlichkeit“ frei gegeben.

 

Im Flüchtlingslager „Bart“ in Karabulak wurde im Herbst 2001 die fünfte CPCD-Schule (zunächst waren es Zelte, jetzt ist es auch eine stattliche Holzschule)

gebaut und in unsere Verantwortung gegeben.

In OMEGA 5 habe ich mich einen ganzen Tag aufgehalten. In dieser Schule werden

die Kinder von der ersten bis zur elften Klasse unterrichtet. Neben dem Schulgebäude ist das Spielzelt vom „Kleinen Stern“.

Mit den Kleinen in der Unterstufe habe ich gespielt und gesungen, ihnen kleine Kuscheltiere mitgebracht. Die großen Schüler und Schülerinnen habe ich nach ihrer Meinung zum Referendum befragt; ich habe mit ihnen nach dem Sinn und Wert des Referendums gesucht und mit ihnen über die vielleicht auch  positiven und negativen Aspekte diskutiert; während der Gespräche entwickelte sich ein Vorhaben der Kinder und Jugendlichen: sie beschlossen, ein eigenes, ein „Kinder-Referendum“  zu formulieren, zu schreiben, zu gestalten. Ich sollte es mit nach Deutschland nehmen –

als „Gegenentwurf“ zu den schwer verständlichen „Erwachsenen-Papieren“, die die Interessen und Rechte der Kinder nicht oder zu wenig berücksichtigen.

Außerdem gaben sie mir viele selbstgemalte Bilder mit für eine „Ausstellung“, die ich in Düsseldorf plane.

 

Der Text des „Kinder-Referendums“ lautet:

Kinder-Referendum – Frieden auf der ganzen Welt!

In jedem Land, in jeder Stadt, in jedem Haus, in jedem Herzen.

Frieden im Irak und in Tschetschenien !!!

Wir brauchen keine Soldaten, keine Waffen, keine Panzer und keine Bomber.

Wir brauchen Sicherheit, damit wir ohne Tränen aufwachsen können.

Die tschetschenischen Kinder haben jeden Tag Angst.

Wir brauchen Sicherheit – heute und morgen.

Wir wollen, dass die Welt weiß, wie Kinder in Tschetschenien leben.

Wir wollen wie normale Kinder glücklich leben: in unseren Häusern,

 in unserem Land.

Wir schicken an Euch unsere Zeichnungen und Bilder.

Barbara nimmt sie mit nach Deutschland.

 

                                                                               23. 03.03

                                                                  am Tag des Referendums

 

Es können nicht alle tschetschenischen Kinder dieses Kinder-Referendum unterschreiben.

Wir Kinder, die hier unterschrieben haben, vertreten alle tschetschenischen Kinder.

 

Ich versuche, den Text dieses Kinder-Referendums öffentlich zu machen.

Nicht weil es Aufsehen erregen würde oder zum Nachdenken anregen würde ...

- das glaube ich nicht - ; ich bin es den Kindern gegenüber schuldig, die mit großer

Ernsthaftigkeit den Text formuliert und geschrieben haben: zu Kenntnisnahme in

Deutschland ...  und in der ganzen Welt.

 

 

 

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Menschenrechtsverletzungen –

ein Tatbestand der Kriegsführung gegen die tschetschenische Zivilbevölkerung

 

Bei meinen letzten drei Reisen nach Inguschetien und Tschetschenien

im Juni 2002, im März 2003 und im Oktober 2003 habe ich in den Memorial-Büros in Grosny und in Nazran (Inguschetien) an Interviews teilgenommen mit „betroffenen“

Tschetschenen, mit Menschen, deren Verwandte, Männer, Söhne, Frauen und Kinder verschwunden, ermordet, gefoltert wurden, die selbst bei den sogenannten „Säuberungsaktionen“ geschlagen, getreten, entwürdigt wurden, deren Haus angezündet oder die Wohnung verwüstet wurde; Menschen, die um Hilfe, um Beistand, um Gerechtigkeit bitten, die Fotos vorzeigten, die in ihrer Grausamkeit und

bestialischen Ermordungstaktiken den Atem stocken lässt.

Fotos und die dazugehörigen Berichte habe ich mitgebracht und zu einer Dokumentation zusammengestellt.

Ich möchte im folgenden den Begriff: „bespredel“ erläutern und dabei über die Interview-Ergebnisse der bekannten amerikanischen Journalistin Maura Reynolds berichten.

Sie befragte im September 2000 aus Tschetschenien zurückgekehrte russische Soldaten nach ihren Tätigkeiten und Handlungen im Kriegsgebiet.

Bespredel

nennen die russischen Soldaten die „Exzesse“ oder „grenzenlose Grausamkeiten“.

Die Männer gaben freimütig zu, dass Kriegsverbrechen nicht nur vorkommen, sondern die Regel sind.

„Wir müssen grausam zu ihnen sein, sonst erreichen wir gar nichts. Ohne bespredel kommen wir nicht ans Ziel“. „Man muss dafür sorgen, dass sie so viele Schmerzen

erleiden wie möglich. Es kommt darauf an, dass sie langsam sterben. Ein schneller Tod ist einleichter Tod.“ Ein Offizier sagte, bei „Säuberungsaktionen“ habe er jeden Mann getötet, der ihm über den Weg lief und es habe ihm nicht leid getan.

Zitat eines Offiziers: „Das Militär hat verstanden, dass Tschetschenen nicht umerziehbar sind. Gegen die Russen zu kämpfen, liegt ihnen im Blut. Sie haben ihr Leben lang geraubt, unser Vieh gestohlen und geschlachtet, sie kennen gar nichts anderes ... wir hätten alle über fünf Jahre alten Tschetschenen totschlagen und alle Kinder, die man noch erziehen kann, in Reservate mit Stacheldraht und Wachposten an den Ecken bringen sollen ... Aber wo findet man Lehrer, die eine solche Wolfsbrut

unterrichten würden? Die Leute gibt es gar nicht. Es ist also viel einfacher, sie alle umzubringen .... Aus politischen Gründen ist es nicht möglich, die gesamte Bevölkerung zu ermorden und die Kinder in Reservate zu stecken. Aber manchmal kann man versuchen, das Ziel zu erreichen“.

Weil gefangengenommenen Tschetschenen ohnehin die Todesstrafe erwarten,

„erledige man das sofort auf der Stelle“ oder an anderen versteckten Orten, um ungestört sich an den Opfern noch zu befriedigen. Man kann die Lebendigen auch einfach an zwei Panzerfahrzeuge binden und von diesen zerreißen lassen, wenn sie

in entgegengesetzte Richtungen anfahren: „Es floss viel Blut“, erzählte ein ehemaliger Kriegsteilnehmer, “aber die Jungs brauchten das. Danach beruhigten sie sich. Es wurde Gerechtigkeit geübt, und das war ihnen am wichtigsten“.

Tschetschenen werden aus Hubschraubern – tot oder lebendig – geworfen; bei lebendigem Leib Arme und Beine abgerissen, das Herz aus der Brust geschnitten und die Ohren  abgeschnitten und auf das Grab eines gefallenen Russen gelegt.

Das bedeutet: „Ruhe in Frieden, Kamerad. Du bist gerächt.“

 

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Opfer in Zahlen:

 

1.Tschetschenienkrieg: 80.000 Tote

 

2. Tschetschenienkrieg – bisher:

 

Bisher sind ca. 3.500 Zivilisten spurlos verschwunden,

sagt die tschetschenische Seite;

der russische Militärstaatsanwalt behauptet, es seien nur:

1.500 Verschwundene;

die russische Menschenrechtsgruppe „Memorial“ beziffert die Zahl der verschwundenen Tschetschenen auf „mehr als 2800“

 

 

Die Zahl der aufgefundenen ermordeten Zivilisten nach den sog. „Säuberungsaktionen“, „Spezialoperationen“ oder aufgrund von Folterungen in den Filtrationslagern:

mehr als 40 Massengräber mit Hunderten von Leichen; die meisten konnten nicht mehr identifiziert werden;

Die angegebenen Zahlen von aufgefundenen ermordeten Zivilisten gehen von 2070 bis 5000 .

 

In einer Aufstellung über Morde und Verletzungen auf dem Territorium der Tschetschenischen Republik

vom 1. Januar bis 31. Dezember 2002

nennt die offizielle tschetschenisch/russische Verwaltung in Grosny 1132 Mordopfer unter der zivilen Bevölkerung;

 

bisher 70.000 Tote: Zivilisten

und 13.000 tschetschenische Rebellen (nach russischen Angaben)

und 11.000 russische Soldaten

 

Minenopfer:

im Jahr 2002 insgesamt 5.695 Menschen (laut Bericht der Internationalen Kampagne für das Verbot von Landminen

ICBL)

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Warum und womit der russische Präsident Wladimir Putin der Öffentlichkeit vorgaukelt, der Krieg in Tschetschenien sei beendet.

 

Putin hatte geglaubt, der Krieg in Tschetschenien, den er „Antiterroristische Operation“ nennt und der in erster Linie ein Krieg gegen die Zivilbevölkerung ist, könnte schnell und siegreich zu Ende  geführt werden. Da hat er sich verkalkuliert.

 

Der Krieg kostet Geld und ... den Tod vieler russischer Soldaten.

Die russische Bevölkerung wird von Jahr zu Jahr skeptischer, ungeduldiger und steht der Fortführung des Krieges immer kritischer gegenüber.

Putin möchte im kommenden Jahr als Präsident wiedergewählt werden.

Da muss er sich etwas einfallen lassen.

Zum Glück hofieren ihn die westlichen Großmächte und deren Präsidenten und Kanzler.

 

Tschetschenien muss zur „Normalität“ zurückkehren, sagt er.

Normalität setzt er mit Frieden gleich.

Normal heißt: es gibt keine Flüchtlinge mehr.

Die Flüchtlingslager müssen aufgelöst werden.

Alle Tschetschenen sollen zurückkehren in ihr Land.

Es sollen Kompensations-Gelder  an die ausgezahlt werden, die ihre Häuser wieder aufbauen müssen.

Das klingt verlockend.

Zur „Normalität“ gehört auch, dass die Tschetschenen ihren eigenen tschetschenischen Präsidenten wählen, so wählen, wie es nach alter sowjetischer Manier üblich ist: es muss das dabei rauskommen, was

der Kreml will.

So sucht sich Putin Verbündete aus der tschetschenischen Volksgruppe,

die für ihn, das heißt für die „Interessen Russlands“ die Arbeit verrichten:

es bietet sich als zukünftigen Präsidenten Achmad Kadyrow an, der Mufti, der im 1. Tschetschenienkrieg gegen die russischen Invasoren

gekämpft hatte und 1999 seine Stadt Gudermes kampflos den Russen überließ.

Nach alter bewährter Sowjet-Methode werden Wahlergebnisse schon

quasi vor Beginn der Wahlen zum Referendum am 24. März 2003 und zur Präsidentschaftswahl am 5. Oktober 2003 gefälscht – was alle wissen – nicht nur die tschetschenische Bevölkerung, die nie und nimmer Kadyrow zu ihrem Präsidenten in freien und unabhängigen Wahlen gewählt hätte. Es steht fest, dass die Tschetschenen diesen Mann zutiefst ablehnen; es steht fest,

dass die Präsidentschaftswahlen in Tschetschenien eine Farce waren; das wissen alle.

Trotzdem wurde Präsident Kadyrow am 19. Oktober 2003

in Gudermes – in Grosny wäre es zu gefährlich gewesen -  feierlich in sein Amt eingeführt.

 

Man muss wissen, dass in der russischen Bevölkerung der Name „Tschetschene“ schon seit Jahrhunderten gleichgesetzt wird mit dem Begriff: der Schwarze, der Bandit, Verbrecher, Räuber, Kriminelle... und jetzt moderner ausgedrückt: Terrorist.

 

Wenn Putin bei einer öffentlichen Rede wörtlich sagt:

„Man muss sie (die Tschetschenen – er meint die Terroristen)

wie Ungeziefer vernichten.

Wir werden sie in allen Ecken der Welt verfolgen und sie sogar in den Toiletten ertränken“ ...

und der Präsident der Tschetschenen, Achmad Kadyrow am

19. Oktober 2003 im russischen Fernsehen verlauten lässt:

„Putin sagte, wir müssen die Terroristen sogar auf der Toilette töten, und ich sage, wir müssen die Terroristen schon im Mutterleib (in der Gebährmutter) töten, denn wenn sie einmal das Licht gesehen haben und ihre Flügel ausgebreitet haben, ist es zu spät“,...

 

dann ist es nur zu verständlich, dass die tschetschenische Bevölkerung

kein Vertrauen hat – weder zur russischen noch zur russisch/ tschet-

schenischen Regierung.

 

Für Putin ist jetzt alles „normal“: es gibt einen tschetschenischen Präsidenten, es werden keine Bomben mehr über Grosny abgeworfen,

alle Flüchtlinge sind in ihrem eigenen Land herzlich willkommen (wo sie und wovon sie leben sollen, wird nicht gesagt), und natürlich müssen die russischen Soldaten weiterhin in Tschetschenien verbleiben, damit die Zivilbevölkerung vor den Terroristen in den Bergen beschützt werden.

 

Putin brauchte für seine erste Wahl zum russischen Präsidenten

den zweiten Tschetschenienkrieg;

für die zweite Wahl zum russischen Präsidenten im Jahr 2004  braucht er unbedingt die „Normalisierung“ in Tschetschenien; das heißt:

Frieden – Ruhe – Ende des Krieges.

 

Das System der „Tschetschnisierung“ bietet sich hierfür an.

Hierbei kann man die verbrecherische Seite der Tschetschenen gut vorführen: sie haben eine Mörderseele, denn sie bringen sich gegenseitig sogar um!