Besuch der Stadt Narowlja in Weißrussland durch den
Westfälischen Wohnverbund Marl-Sinsen
vom 27.06.2005 bis 01.07.2005
Reisebericht von Peter Eltrop
A n k u n f t
Es ist uns, Herrn Rütsch und mir, schon etwas eigenartig zu Mute, als wir nach 2
Stunden Flug von Frankfurt in Minsk, der Hauptstadt Weißrusslands, am 27.06.2005
landen. Was wird uns erwarten?
Zunächst müssen wir eine strenge Passkontrolle über uns ergehen lassen, bevor
uns – wie verabredet – Lena, eine Weißrussin, am Flughafen mit einem Taxifahrer
in Empfang nimmt. Wir fahren rd. 380 km von Minsk zu unserem Bestimmungsort
Narowlja. Die Fahrt dauert rd. 3 ½ Stunden. Wir fahren überwiegend an Birken-
und Kiefernwäldern vorbei, die gelegentlich durchbrochen werden von bestellten
und unbestellten Feldern.
Die Gegend ähnelte Finnland. Auf der Autobahn und den sonstigen Straßen fällt
der ausgesprochen geringe Verkehr auf. Es begegnen uns nur wenige Autos, wenn,
dann meist deutscher Herkunft und Lastautos, die hier in Deutschland sicherlich
Kultstatus genießen würden.
In Narowlja angekommen, erstaunt uns, dass die Stadt nur wenig belebt erscheint.
Wir werden zu einem Hotel gebracht – erstes und einziges Haus am Platze. Hier
treffen wir unsere Delegation der Friedensinitiative Nottuln e.V. – 11 Personen,
die bereits das Wochenende vorher angekommen sind. Mit den Vertretern der
Friedensinitiative ist eine 4köpfige Jugendband aus Nottuln mit angereist, die
am Vortag mit anderen weißrussischen Bands vor meist jugendlichem Publikum
aufgetreten ist und ihre Auftritte genutzt hat, um mit Broschüren in russischer
Sprache über die Gefahren von Aids und die Vermeidung dieser Infektion
aufzuklären.
Unser Zimmer, ein Einzelzimmer gab es für uns nicht, entpuppt sich eher als
Abstellkammer mit 2 Betten und einem Schrank. Eine Gemeinschaftsdusche gibt es
am Ende des Flures, wobei es nur samstags warmes Wasser geben wird, was wir
leider aufgrund der Termingestaltung nicht erleben durften.
Um unser Frühstück kümmern sich die Mitglieder der Friedensinitiative. Die
Übernachtung wird für uns 9,00 Euro/Person kosten. Dieser Preis ist fünfmal so
hoch wie der, der für Einheimische berechnet würde.
Die 11köpfige Abordnung aus Nottuln – an ihrer Spitze Gabriele Mense-Viehoff und
Ulrike Ensmann von der Friedensinitiative Nottuln e.V., die mit einem Bus
angereist sind – kennen die weißrussischen Verhältnisse, sind darauf vorbereitet
und haben ein zusätzliches Zimmer gemietet, in dem wir morgens gemeinsam
frühstücken.
D i e S t a d t N a r o w l j a
Vor dem Unglück in Tschernobyl – also vor 1986 – hatte Narowlja rd. 24.000
Einwohner. Jetzt sind es nur noch 12.000. Narowlja liegt rd. 50 km von
Tschernobyl entfernt, das direkt hinter der weißrussischen Grenze im Norden der
Ukraine liegt. Nach dem Unglücksfall wurde verspätet zunächst eine Evakuierung
von Narowlja angeordnet – später wurde dann eine Rückkehrmöglichkeit eingeräumt.
Ein Denkmal in der Stadt erinnert an die 34 Gemeinden, die in der sogenannten
„verbotenen Zone“ aufgrund der Verstrahlung aufgegeben werden mussten. Diese
Gemeinden wurden vollkommen eingeebnet. Die Zone ist auch heute nur mit einer
besonderen Erlaubnis zu betreten. Im Zentrum der Stadt erinnert ein großes
Lenindenkmal sowie Hammer und Sichel daran, dass wir uns in einem
kommunistischen Land befinden, welches ausgesprochen stringent durch den
Staatspräsidenten Lukaschenko regiert wird. In allen Amtsstuben hängt sein Bild.
Im weißrussischen Fernsehen werden permanent Ansprachen von ihm ausgestrahlt.
Die Menschen, die wir treffen, sind ausgesprochen freundlich und gastlich, die
Kinder fröhlich und aufgeschlossen. Sie versuchen, mit einigen Brocken Deutsch
mit uns ins Gespräch zu kommen. Die Kaufhäuser sind groß im Vergleich zu den
wenigen Gütern, die übersichtlich sortiert angeboten werden. Es gibt allerdings
alles zu kaufen. Das Personal in den Kaufhäusern und im Hotel scheinen wenig
motiviert als Angestellte des Staates.
B e s i c h t i g u n g e n
Am nächsten Tag, dem 28.06.2005, besuchen wir das Sozialamt der Stadt Narowlja.
Frau Galina Popovitsch, stellv. Leiterin, stellt uns den Aufgabenbereich vor. Es
sind 3 Abteilungen eingerichtet: Die erste dient zur Erfassung der
Hilfesuchenden. Hier werden in einer manuellen Datenbank die Grunddaten
aufgenommen und festgelegt, welche Hilfen erforderlich sind. In der zweiten
Abteilung werden einmalige Hilfen sowie Zahlungen zur Erlangung der finanziellen
Mindestausstattung gewährt. Auch werden Zuweisungen in Altersheime durchgeführt.
Zudem befinden sich 40 Kinder mit unterschiedlichen Behinderungen hier in der
Betreuung. Diese Kinder werden in der Regel zu Hause betreut. 30 % dieser Kinder
sind erkrankt an Leukämie aufgrund des Reaktorunfalls in Tschernobyl. Die
übrigen Kinder bedürfen Unterstützung aufgrund von psychiatrischen,
Herz-Kreislauf-, Atemwegs- und Diabetes-Erkrankungen sowie aufgrund von
Unglücksfällen.
In der dritten Abteilung des Sozialamtes werden Alleinstehende betreut, die bei
den Routinearbeiten des täglichen Lebens – wie z.B. beim Einkaufen, Umgang mit
Behörden usw. – Hilfe benötigen. Zum Teil sind diese Personen auch körperlich
behindert. Zur Zeit betreuen 26 Sozialarbeiter 174 Personen in diesem Bereich.
Diese Hilfeleistung erfolgt kostenlos, allenfalls von gut Situierten wird ein
Kostenbeitrag erhoben.
Am gleichen Tag besichtigen wir ein ambulantes Reha-Zentrum, in dem 16 Kinder
behandelt werden – überwiegend sprachgestörte und bewegungsbeeinträchtigte, auch
verhaltensgestörte Kinder. In der Regel besuchen diese Kinder derzeit nicht die
Schule. Die Mitarbeiter des Reha-Zentrums betreuen, aber auch Kinder in den
Schulen. Leiter des Reha-Zentrums ist ein Psychologe. Ziel des Reha-Zentrums ist
es, die Kinder auf die Anforderungen, die der Alltag mit sich bringt, adäquat
vorzubereiten.
Am 29.06.2005 besuchen wir schließlich das Krankenhaus von Narowlja. Es verfügt
über 100 Betten, zusätzlich existiert eine Poliklinik. Das Krankenhaus verfügt
über die Abteilungen für Chirurgie, Kinderheilkunde, Entbindung, Gynäkologie und
für Infektionen. Der stellv. ärztliche Direktor und eine Psychiaterin erläutern
uns ihr Aufgabengebiet. Seit Tschernobyl hat der Schilddrüsenkrebs zugenommen,
über Schädigungen bei Neugeborenen liegen keine Erkenntnisse vor. Nach rd. 20
Jahren sei die Erkrankungsrate an Krebs vergleichbar mit anderen nicht
belasteten Regionen. Herz-Kreislauf-Erkrankungen steigen durch Stressfaktoren,
die insbesondere durch die Bewältigung von Alltagssituationen hervorgerufen
werden. Auch der Umzug aus der belasteten Region und die spätere Rückkehr hat
Stress hervorgerufen. Keine Erkenntnisse herrschen allerdings darüber, wie sich
die radioaktive Belastung – insbesondere für die Kinder – für die Zukunft
auswirken wird. Die Psychiaterin Olga Valentina weist auf die deutliche Zunahme
der psychiatrischen Erkrankungen bei Kindern hin. In den letzten 4 Monaten habe
sie zusätzlich 30 Kinder mit emotionalen Störungen behandelt. Die Zunahme
erklärt sie auch dadurch, dass sie nunmehr als Fachärztin hier arbeitet.
Verschiedene Faktoren sind für die Zunahme von psychiatrischen Krankheiten
verantwortlich – so z.B. der Alkoholismus der Eltern und die Folgen des
Tschernobyl-Unfalls. Insbesondere hat eine Zunahme der emotionalen Erkrankungen
bei Kindern und Jugendlichen stattgefunden. Die Psychiaterin bemängelt, dass der
Zugang zu den Eltern nur schwerlich möglich ist, oftmals sei das Fehlverhalten
der Eltern Ursache der psychischen Störungen. Depressive Erkrankungen, Schlaf-
und Angststörungen sind die Folge. Eine stationäre kinder- und
jugendpsychiatrische Behandlung ist in Narowlja nicht möglich; diese findet in
der Stadt Gomel statt. Oftmals sind nur die Mütter bereit, sich mit den Kindern
auf eine Behandlung einzulassen, oftmals werden die Väter hierüber nicht
informiert. Geistig Behinderte werden in einer Internatsschule mit 120 Plätzen
in Yel’sk betreut. Viele Kinder in Narowlja sind noch nicht eingehend untersucht
worden. Die Zahl der Alkoholerkrankungen scheint erheblich zu sein, obwohl nur
400 = rd. 4 % registriert sind. Diese Registrierung erfolgte aufgrund massivster
Auffälligkeiten in der Öffentlichkeit, die Dunkelziffer ist weit höher.
Gebraucht werden insbesondere medizinische Geräte zur Notfallversorgung mit
Sauerstoff sowie Autos. Der Staat erschwert die Einfuhr von Geräten mit
Auflagen.
Auf unseren Wunsch wird uns die Kinderabteilung mit 10 Betten gezeigt. Diese
macht einen ausgesprochen kargen Eindruck. Die medizinischen Geräte gehören eher
ins Museum, als zur aktiven Behandlung. Die Stationsärztin erläutert, dass
überwiegend die Behandlung von Erkältungs- und Atemwegs-Erkrankungen erfolgt. Es
werden zwar akute Notfälle aufgenommen, die jedoch nach der Notfallversorgung
verlegt werden in größere Kliniken.
Die Klinik scheint auch soziale Funktionen zu erfüllen. So lernen wir eine
18jährige Mutter mit ihrem 3 Monate alten Säugling kennen, die von ihrer Familie
verstoßen wurde. Des weiteren sehen wir ein neugeborenes Kind in einem
Gitterbettchen, welches bei uns allenfalls nach dem Krieg verwendet wurde. Das
Neugeborene war zur Behandlung abgegeben worden. Die Mutter hatte es jedoch am
Tag der vorgesehenen Entlassung nicht wieder abgeholt.
Beabsichtigtes Projekt, für das unsere Mithilfe gewünscht wird
Nach der Besichtigung der Kinderabteilung werden uns Räumlichkeiten der Klinik
gezeigt, die vorgesehen sind für das Projekt zur Errichtung eines Tagesstätte.
Hierfür sollen wir Hilfestellung leisten. Die Tagesstätte soll dazu dienen, bis
zu 20 Kinder den Tag über zu betreuen. Auch eine stundenweise Betreuung ist
angedacht. Aufgenommen werden sollen Kinder im Alter von 3 bis 18 Jahre mit
unterschiedlichen körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen. Dabei sollen
in erster Linie die Eltern von der Betreuung ihrer teilweise chronisch
erkrankten Kinder entlastet werden, um so den Alltag besser meistern zu können.
Den Kindern wird in der Tagesstätte dann gezielte Hilfe zuteil, um sie zu
fördern und im Umgang mit ihrer Behinderung zu unterstützen. Staatlich wird
folgende Personalausstattung finanziert werden:
1 Psychologe als Leitung
1 Krankenschwester
1 Sozialarbeiter
1 Hausangestellte
Völlig offen ist die Finanzierung für Fachtherapeuten – wie z.B. Logopäden,
Psychotherapeuten, Ergotherapeuten, Bewegungstherapeuten usw.. Teilweise müssen
diese Fachtherapeuten noch speziell ausgebildet werden. Es wird des weiteren die
komplette Ausstattung benötigt. Den Kindern soll ermöglicht werden, das
Mittagessen in der Tagesstätte einnehmen zu können, auch Räumlichkeiten für die
Mittagsruhe der Kinder sind eingeplant.
Nach der ersten In-Augenschein-Name der Räumlichkeiten wird von uns
festgestellt, dass die zur Verfügung stehenden Flächen bei weitem zu gering
ausgelegt sind. Es wird der Vorschlag unterbreitet, weitere Räumlichkeiten der
Klinik zur Verfügung zu stellen. Danach muss ein Raumprogramm aufgrund der noch
zu erstellenden Konzeption erarbeitet werden. Dieses Raumprogramm wird
sicherlich auch zu Umbauten und Instandsetzungsarbeiten zwingen.
V o r g e s e h e n e e r s t e U n t e r s t ü t z u n g e n
Nach einem gemeinsamen Abendessen mit der Bürgermeisterin Alla Naomenko und von
weiteren Vertretern der Stadtspitze von Narowlja, welches nach russischer Sitte
immer wieder durch Reden und Aussprechen von Toasts unterbrochen wird, treffen
wir uns am 01.07.2005 im Zimmer der Bürgermeisterin, um ein Resümee unseres
Besuches zu ziehen.
Eine weitere Intensivierung der Kooperation zwischen den Kommunen Narowlja /
Nottuln und der Klinik und dem Wohnverbund Marl sind gewünscht. Als erste
konkrete Hilfeleistung soll der Klinik in Narowlja ein ausgedienter VW-Bus, der
allerdings noch absolut funktionstüchtig ist, übergeben werden. Wir vereinbaren
Hospitationen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Klinik in Narowlja in
der Klinik und dem Wohnverbund in Marl. Dabei sollen kurzfristig eine Erzieherin
– voraussichtlich im September – und eine Psychiaterin jeweils für ½ bis 1 Jahr
in Marl hospitieren.
Es wird eine Besichtigung der Klinik und des Wohnverbundes sowie vergleichbarer
Einrichtungen – wie sie in Narowlja geplant sind – in unserer Region erfolgen.
Der Besuch einer Delegation wird für November in Nottuln mit 25 bis 30 Personen
aus Narowlja festgelegt. Dabei sollen auch die Besichtigungen in Marl und in der
Region stattfinden.
Der Besuch soll auch zu einem Kulturaustausch genutzt werden. Ein Kinder-Chor
aus Narowlja wird mit anreisen. Die Gemeinde Nottuln wird ebenfalls Beiträge zu
diesem Kulturaustausch beisteuern. Ein Programm soll gemeinsam erarbeitet
werden.
Bis Oktober wird ein überarbeitetes Konzept zur Errichtung der Tagesstätte in
Narowlja uns übersandt werden mit einer konkreten Wunschliste für unsere
Hilfestellung. Über diese konkrete Hilfestellung kann dann bis zum Besuch der
Delegation aus Narowlja im November entschieden werden. Der VW-Bus soll direkt
der Delegation zur Mitnahme nach Narowlja übergeben werden.
R ü c k b l i c k
Rückblickend war die Reise ein beeindruckendes Erlebnis. Die Gastfreundlichkeit
der Menschen war bemerkenswert. Erstaunlich ist, wie sie unter den ausgesprochen
schwierigen Rahmenbedingungen ihren Alltag bewältigen mit den nur wenigen
Ressourcen über die sie verfügen. Nach Auskunft der Kommune Narowlja beträgt die
Arbeitslosigkeit lediglich 1,8 %, also herrscht praktisch keine
Arbeitslosigkeit, was jedoch stark angezweifelt werden muss, vielleicht aber
auch durch staatliche Arbeitsprogramme erreicht wird. Ein wenig Sorge bereitete
der Umgang mit der weißrussischen Polizei, bei der wir uns innerhalb von 3 Tagen
registrieren lassen mussten, um wieder ausreisen zu können. Dies brachte
erhebliche Probleme und massiven Bürokratismus mit sich. Die Problematik konnte
letztlich mit Hilfe der Bürgermeisterin gelöst werden.
Insgesamt bleibt der Wunsch, den Menschen in Narowlja mit den Mitteln, die wir
leisten können, zu helfen und die Freude auf ein Wiedersehen in Nottuln und in
der Haardklinik und dem Wohnverbund.