Robert Hülsbusch

Beeindruckender Besuch in Minsk und Narowlja

* Neue Freizeit vorbereitet
* Erfahrungen ausgetauscht
* Sperrzone Tschernobyl besucht

 

"Sie helfen mit, eine ganze Generation unseres Volkes zu retten!". Mit diesen Worten wurden die Mitglieder der Friedensinitiative Nottuln von Irina Gruschewaja in Minsk empfangen. Zusammen mit ihrem Mann Gennadi Gruschewoj hatte sie vor 3 Jahren die Stiftung "Den Kindern von Tschernobyl" ins Leben gerufen. Auf Einladung dieser Stiftung hielten sich jetzt Gabi Mense-Viehoff, Ulla Pröbsting-Hülsbusch, Jürgen Hilgers-Silberberg und Robert Hülsbusch 7 Tage in Minsk auf. Ziel der Reise war es, die Kontakte zu der Stiftung (früher Komitee "Kinder von Tschernobyl") zu intensivieren und die neue Ferienfreizeit für die Tschernobyl-Kinder in Nottuln vorzubereiten. Aus diesem Grund besuchten die FI-Mitglieder auch 2 Tage die Stadt Narowlja, aus dem die Ferienkinder in diesem Jahr nach Nottuln kamen.

Schnell wurde den Nottulnern in Minsk klar: So dramatisch wie die Begrüßung durch Irina Gruschewaja klang, so dramatisch erleben die Menschen selbst in der 350 km von Tschernobyl entfernt liegenden Hauptstadt Weißrußlands die Folgen der Atomkatastrophe. Täglich bestimmen diese das Leben der Menschen dort: Das Immunsystem der Menschen ist gestört, überall herrscht Unsicherheit über den radioaktiven Verseuchungsgrad der Lebensmittel, die wirtschaftliche Situation der Menschen - nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ohnehin sehr schwierig - leidet darunter. So hat jeder Belorusse 18 % seines Gehaltes als Tschernobylabgabe abzuführen. Damit sollen die riesigen Folgen des Reaktorunfalles beseitigt werden. Wie schwierig es für die Menschen in Weißrußland ist, mit dieser Situation umzugehen, erfuhren die Nottulner durch Irina Gruschewaja. In einem dreistündigen Gespräch in der Stiftung berichtete die Professorin für Deutsche Sprache über die Arbeit ihrer Organisation. Am Anfang sei es für ihre Mitmenschen sehr schwer gewesen, sich aus den Strukturen einer entpersönlichten Gesellschaft freizustrampeln und Eigeninitiativen zu starten, um z.B. die dringend notwendigen radioaktiven Messungen in weiten Teilen ihrer Heimat vorzunehmen. Vieles sei mittlerweile geschehen. 36 Tschernobyl-Organisationen existieren nun schon. Alleine ihre Stiftung "Den Kindern von Tschernobyl" hätten bisher 31.000 Kinder aus den hoch verstrahlten Gebieten ins Ausland verschickt, damit sie sich dort erholen könnten. Mit 17 Ländern arbeiteten sie dabei zusammen, wobei Deutschland eine große Rolle spielte. "Und" - so freute sich die Minskerin - "Ihre Initiative in Nottuln war eine unserer ersten Partner im westlichen Ausland und deshalb auch sehr wichtig für uns!"

Intensiv wurden die Erfahrungen über die Ferienfreizeit in den vergangenen Jahren ausgetauscht. Viele Fragen, auch kritische, wurden in diesem Zusammenhang erörtert. Auf den Einwand, eine 4-wöchige Ferienfreizeit habe kaum medizinische Konsequenzen für die Tschernobylkinder, antwortete Irina Gruschwewaja mit den Erfahrungen einer Gruppe von Fachärzten, die sich in ihrer Stiftung konstituiert hätte. Ganz eindeutig sei so eine Ferienreise ins Ausland geeignet, das gestörte Immunsystem der Kinder wieder aufzurichten. Auch Bedenken, die Kinder aus Weißrußland könnten nach 4 Wochen Aufenthalt in Deutschland einen Kulturschock erleben, teilte Irina Gruschewaja nicht. Die Kinder freuten sich, wieder nach Hause zu fahren: "Dort ist ihre Heimat, und dort leben sie und fühlen sich wohl." Die Reisen der Kinder ins Ausland seien zudem noch aus einem ganz anderen Grund wichtig: "Die Kinder sind auch kleine Botschafter. Hautnah erfahren so die Menschen im Ausland, in was für einer dramatischen Situation wir hier leben. Intensive Kontakte entstehen, die oft neue Anstöße für weitere Hilfen geben." Regelrechte Partnerschaften seien entstanden. Medizinische Hilfstransporte kämen nun fast wöchentlich. Weitere Projekte z.B. Mutter-Kind-Kuren würden durch Geldspenden möglich.

Natürlich gäbe es auch mal negative Effekte, bezog sich die Professorin aus Minsk auf weitere Kritikpunkte an diesen Freizeitmaßnahmen. Z.B. sei die allzu große Überhäufung der Kinder mit Geschenken nicht sinnvoll. Alles in allem aber gäbe es jedoch zu diesen Ferien im Ausland keine Alternative: "Wenn das Haus brennt, muß man hineinlaufen und die Kinder herausholen. Die Gefahr, daß dabei den Kindern kleine Schrammen zugefügt werden, kann uns davon doch nicht abhalten oder?"

Der konkreten Planung der Ferienfreizeit im kommenden Jahr diente u.a. die 2tägige Reise nach Narowlja. Sehr entgegen dabei kam, daß die Nottulner Gruppe privat bei Wladimir Bibik untergebracht war. Wladimir Bibik ist der Vorsitzende der örtlichen Sektion der Stiftung "Den Kindern von Tschernobyl" und als deren Vertrauensmann verantwortlich für die Auswahl der Kinder, die zu Ferienfreizeiten verreisen können. Auch hier wurden die Nottulner, wie schon zuvor die Gasteltern, die einen Hilfstransport nach Narowlja begleiteten, herzlich begrüßt und mit Dank überschüttet. Allein aus dieser radioaktiv sehr verstrahlten Stadt seien 1992 530 Kinder im Ausland gewesen. Wladimir Bibik bemüht sich nach eigenen Angaben darum, daß alle Kinder einmal die Möglichkeit haben, an Ferienfreizeiten teilzunehmen. Bei der großen Zahl der EInladungen sei das für die Kinder im Alter von 9 bis 14 Jahren fast möglich. Weitere Auswahlkriterien seien in Absprache mit der Minsker Stiftung: Kinderreichtum, soziale Nöte und ärztliche Empfehlung. Viele Kinder in Narowlja leiden direkt unter den Folgen des Atomunfalles im 50 km entfernt liegenden Tschernobyl: Schilddrüsenerkrankungen, Immunstörungen, Krebs. Wie prägend dieser Unfall auch für das Leben der Erwachsenen in der Stadt ist, erklärte der Gastgeber an seinem eigenen Beispiel: 1986 - im Jahr der Katastrophe - baute er zusammen mit seinen Söhnen das Haus, in dem jetzt seine Familie wohnt. Tagelang wußten sie nichts von dem Unfall im nahen Atomkraftwerk und arbeiteten im Freien weiter. Heute hat Wladimir Bibik die Strahlung in seinem Garten Millimeter für Millimeter mit einem Geigerzähler gemessen. Die Werte sich außerordentlich hoch. Dennoch bauen er und seine Frau weiter Kartoffeln und Gemüse im Garten an. "Was sollen wir machen?" stand der Mann vor den Gästen aus Nottuln. "Wir müssen essen. So ist das Leben!" Auch der Besuch im Krankenhaus der Stadt war erschreckend. Die Zahl der Krankheiten infolge der radioaktiven Verseuchung ist gestiegen, die Medikamentenschränke sind leer. Alles fehlt. "Der Bedarf an Medikamenten und medizinischem Gerät konnte in Narowlja wie in ganz Weißrußland 1992 nur zu 4 % gedeckt werden," berichtete der Internist Wladimir Sawarochin, der im Sommer noch als Arzt die Kinder aus seiner Stadt nach Nottuln begleitete. Einen Einblick in das, was die Atomenergie zu verstören in der Lage ist, vermitteltet der Arzt den Nottulner am letzten Tag ihres Aufenthaltes in Narowlja. Zusammen mit den Begleitern des Hilfstransportes führte es sie in die Sperrzone, die 30 km rund um den zerstörten Reaktor errichtet wurde. Ein Bild des Schreckens bot sich den Besuchern: zerstörte Natur, verlassene Dörfer, mit Brettern zugenagelte Häuser, erste Anzeichen des Verfalls, eine Atmosphäre, die an Unheimlichkeit ihres Gleichen sucht.

Auch in Narowlja selbst stehen viele Häuser leer. Die Menschen sind vor der Radioaktivität geflohen.

Ein Thema, das immer wieder Beachtung fand: Seit einer Woche nun ist der Block 3 des Kernkraftwerkes Tschernobyl wieder in Betrieb. Wladimir Bibik dazu: "Alle Menschen in meiner Stadt haben große Angst!". Die Stiftung in Minsk hat daraus schon die ersten Konsequenzen gezogen. Für Irina Gruschewaja ist klar: "Wir werden eine Anti-Atom-Bewegung bei uns ins Leben rufen und hoffen, daß wir dabei - ähnlich wie im humanitären Bereich - auch von den Menschen in Deutschland, auch von den Menschen in Nottuln unterstützt werden."