Robert Hülsbusch
"NICHTS WIRD VERGESSEN!"
Tagebuchaufzeichnungen einer Reise in die Sowjetunion

2. Deutsch-sowjetische Friedenswoche

31.8. - 8.9.1990
"FÜHLT EUCH HIER WIE ZUHAUSE!"

Freitag, 31.8.90

"Vor 50 Jahren kamen die Deutschen, um Ihr Land mit Krieg zu überziehen. Heute kommen wir, um ihnen den Frieden anzubieten."

Wir stehen vor den Toren Moskaus. 135 Bürger aus der Bundesrepublik und aus der DDR. Mit ruhigen Worten spricht ein Teilnehmer dieser deutschen Delegation diese Worte, wendet sich damit an den Vorsitzenden des Moskauer Friedenskomitees, aber auch an die weiteren sowjetischen Bürger, die sich hier versammelt haben. Der Hintergrund dieser kleinen Veranstaltung läßt mich erschauern: Drei riesige Gebilde ragen empor: Panzersperren. Um den Vormarsch der deutschen Panzerverbände auf Moskau aufzuhalten, wurden sie 1942 und 1943 rings um die sowjetische Hauptstadt aufgestellt. Drei dieser Sperren stehen heute hier, um zu erinnern und zu mahnen. Daß auch heute noch - 45 Jahre nach dem Krieg - die Erinnerung daran das tägliche Leben in der Sowjetunion prägt, lernen wir hier bereits kennen. Nach den kurzen Ansprachen des Vorsitzenden des örtlichen Friedenskomitees, des stellvertretenden Moskauer Bürgermeisters und eines Vertreters des Patriachs der Orthodoxen Kirche zünden wir Grabkerzen an und stellen sie auf den Gedenkstein. Blumen werden niedergelegt.

 

Die kleine Gedenkfeier ist zu Ende. Wir besteigen wieder die Busse und fahren in die Hauptstadt.

Am Morgen waren wir auf dem Frankfurter Flughafen zu dieser Sowjetunionreise gestartet. Im Mittelpunkt soll die Begegnung mit den Menschen in der Sowjetunion stehen. Kontakte sollen hergestellt werden. Volksdiplomatie. Die Entspannungspolitik zwischen Ost und West, die Versöhnung und Verständigung zwischen der Sowjetunion und dem geeinigten Deutschland kann nur gelingen, wenn diese auch auf der Ebene der Bürger ergänzt wird. In der Flughafenkapelle verabschiedete uns Horst-Eberhard Richter. Er sprach von der Gastfreundlichkeit der russischen Menschen, aber auch von den großen Erwartungen, die sowohl Russen als auch Deutsche an ihre gemeinsame Zukunft knüpfen. Es gelte, offen und ehrlich miteinander zu reden, auch über die leidvolle Geschichte der beiden Völker. Die Bereitschaft dazu sei vorhanden. Eine groß angelegte Befragung von russischen und deutschen Studenten hätte dies ergeben. Doch sollten wir vermeiden, übergroße Hoffnungen und Erwartungen zu wecken. Diese könnten und müßten enttäuscht werden. Resignation und neue Vorbehalte könnten folgen. Wichtige Gedanken, die dieser engagierte Mann uns mit auf die Reise gab.

 

Wir fahren durch die beleuchteten Straßen Moskaus. Der Bus hält vor dem Haus des Moskauer Friedenskomitees. Der Vorsitzende begrüßt uns herzlich. "Fühlt Euch hier wie zu Hause." Wieder ist von Freund-chaft und Völkerverständigung die Rede. Nach der Begrüßung machen wir zum ersten Mal mit der russischen Küche Bekanntschaft. Ein reichhaltiges Buffet erwartet uns. Salate, Aufschnitt, Brot, Würstchen, Kuchen, Süßigkeiten, Tee und Kaffee. Nach der langen Reise ein Genuß. Noch während des Essens werden wir von Andre in Empfang genommen. Andre, ein junger Mann aus Moskau, hat die manchmal nicht ganz leichte Aufgabe übernommen, die 5 Nottulner in der Hauptstadt zu betreuen. Gegen Mitternacht fährt er mit uns in einem Bus zum Bahnhof. Von dort aus fahren wir im Nachtzug - Schlafwagen 1. Klasse - in die 500 000 Einwohner zählende Provinzstadt Kursk, 500 Kilometer südlich von Moskau.

 

 

FRIEDENSSCHULSTUNDE - FRIEDENSSCHIFFAHRT

 

Samstag, 1.9.90

 

Der Zug rollt gemächlich über die Schienen. Das monotone Geräusch läßt uns gut schlafen. Als die ersten Sonnenstrahlen durchs Abteilfenster dringen, wache ich auf. Mein erster Blick durch das Fenster. Russische Landschaft, wie ich sie mir immer vorgestellt habe. Ein wenig hügelig, vereinzelte Bäume, weite Sicht. Die ersten Datschen tauchen auf, dann Häuser und Straßen. Der Zug verlangsamt die Fahrt, Bremsen quietschen. Ein Ruck. Wir sind am Ziel. Auf dem Bahnsteig wartet eine kleine Delegation auf uns. Wir werden herzlich empfangen. Mit einem Kleinbus geht es in die Stadt. Sascha vom Kursker Friedenskomitee spricht hervorragend Deutsch. Die Grundlage für eine freundschaftliche Verständigung ist damit gelegt.

Der erste Weg führt uns zur Miliz. Hier wird uns ein Visa ausgestellt, mit dem wir berechtigt sind, in die nahegelegende Stadt Orjol zu fahren. "Wir haben heute ein großes Programm für Euch." Alexander erklärt den Tagesablauf. Am Nachmittag werden wir in diese Stadt fahren, um gemeinsam mit dem dortigen Friedenskomitee und deren Gäste aus der Bundesrepublik an einer Friedensfahrt auf einem Fluß teilzunehmen.

Doch ersteinmal wird die Unterkunft geregelt. Wir sind zunächst ein wenig enttäuscht: Es geht zu einem Intourist-Hotel. Später, nachdem wir die Wohnungen unserer Gastgeber kennengelernt haben, ist uns diese Entscheidung der Kursker völlig klar. Alexander und Tatjana leben mit ihren 2 Kindern in einer kleinen 2 Zimmer-Wohnung. Sascha teilt eine solche kleine Wohnung mit seiner Mutter.

Im Hotel werden wir sofort zum Frühstück gebeten. Sascha und Valentina erklären uns die Struktur und Rolle des Sowjetischen Friedenskomitees: Wir müssen lernen, daß die Friedensarbeit hier in der Sowjetunion ganz anders strukturiert ist. Während wir in der Bundesrepublik mit Friedensarbeit auf große Skepsis der Staatsmacht stoßen, auch ganz bewußt gegen die militärischen Interessen des Staates und die ihn tragenden Parteien arbeiten müssen, ist die Friedensarbeit in der Sowjetunion nicht nur vom Staat geduldet, sie wird von ihm getragen. Überall finden Friedensaktionen, Friedens-age, Friedensschulstunden usw. statt.

Rituale? Sicher ist diese Politik zum Teil ritualisiert, steht sie auch im Dienste einer bislang ideologisierten Außen- und Innenpolitik der Sowjetregierung. Aber sie ist auch die Konsequenz aus der leidvollen Kriegsgeschichte des russischen Volkes. Man nimmt heute an, daß nicht 20, sondern 30 bis 40 Millionen russische Menschen im 2. Weltkrieg den Tod fanden.

So setzen sich die Menschen, die im Friedenskomitee arbeiten, gerade für Völkerverständigung und Abrüstung ein. Gleichzeitig unterstützen sie jedoch die Armee. Eine Distanz zwischen Armee und Friedensbewegung, wie in der Bundesrepublik, ist ihnen unbekannt. Friedlich, aber nicht wehrlos. Da wundert es nicht, daß Gedanken der völligen Entmilitärisierung, Forderungen nach einer Bundesrepublik ohne Armee (BoA) oder gar nach einer Sozialen Verteidigung auf wenig Verständnis stoßen. "Wir arbeiten mit dem Staat eng zusammen," erklärt Sascha. "Dennoch sind wir unabhängig und finanzieren uns mit Spenden aus der Bevölkerung." Ohne gleich zu großen Wertungen zu kommen, nehmen wir diese Andersartigkeit erst einmal hin.

Und gleich geht es zum nächsten Thema: Afghanistan. "Das war ein großer Fehler," gibt Sascha freimütig zu. "Wir vom Friedenskomitee versuchen nun, den Angehörigen der Opfer auf unserer Seite zu helfen. Wir haben Spenden gesammelt und diese weitergegeben."

"Aber sind die Wunden mit Geld zu heilen?"

"Nein, natürlich nicht. Die seelischen Wunden, die sind das eigentliche Problem." Sascha zuckt mit den Schultern. Was soll er dazu auch noch sagen.

 

Nach dem Frühstück fahren wir zu 2 Schulen. Die Nottulner Delegation teilt sich auf. Ich fahre zur Schule Nr. 43. Dort werden wir schon erwartet. Ein Programm ist ausgearbeitet. Doch zunächst zeigt man uns die Schule. Alles ist auf Hochglanz gebracht. Jeder Klassenraum wirkt aufgeräumt. Doch gemütlich sind sie. Das sieht man auf den ersten Blick. Wir betreten eine Klasse, in der 15jährige Mädchen aufmerksam Vertretern eines Kombinats zuhören. Es ist Friedensschulstunde. Eine feste Einrichtung an jedem 1. September in allen Schulen der Sowjetunion. Wir werden kurz vorgestellt. Die Schülerinnen, in schwarze Uniform gekleidet, erheben sich, und singen uns zu Ehren ein Lied. "Haben Sie auch noch Fragen?" Die Lehrerin guckt uns erwartungsvoll an. Als uns spontan so schnell nichts einfällt, sind wir auch schon wieder draußen. Im Lehrerzimmer erwarten uns dann die Kollegen. Wir werden freundlich an den gedeckten Tisch gebeten. Ein Kinderchor betritt den Raum. Die Kinder singen deutsche Lieder. Danach singt der Musiklehrer zum Akkordion russische Lieder. "Wir werden oft im Westen wegen unseren traurigen Lieder nicht verstanden," wirft er zwischendurch ein. "Aber Sie müssen einmal an der Wolga gewesen sein, dann können Sie uns verstehen. Die Lieder spiegeln unsere weite russische Seele wider."

Die Zeit vergeht. Um 14 Uhr werden wir von Jürgen und Margret abgeholt. Ihr Schulbesuch verlief ganz anders, ohne Programm. Sie setzten sich mit Schülern zusammen. Nach einer anfänglichen Unsicherheit auf beiden Seiten kam ein lockeres interessantes Gespräch zustande. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten, die Schulen in der Bundesrepublik, das Freizeitverhalten der deutschen Jugendlichen und Musik. Über alles wurde geredet.

 

Nachmittags fahren wir dann nach Orjol, einer Stadt von der Größe Kursks, ca. 150 km entfernt. Zunächst scheuen wir die 3stündige Fahrt. Doch sie vergeht im Flug. Unsere Gastgeber haben eine Gitarre mit-gebracht. Sie wandert hin und her: 3 russische Lieder, 3 deutsche Lieder. Die Atmosphäre wird zunehmend locker. Nähe stellt sich ein. Lieder verbinden, überbrücken Nationen.

In Orjol werden wir vom dortigen Friedenskomitee herzlich empfangen. Auch hier sind 2 Gäste aus der Bundesrepublik. Organisiert ist eine Friedensfahrt mit drei großen Schiffen auf dem dortigen Fluß. Dazu wurden Kinder eingeladen. Wir verteilen uns auf die Schiffe. Gespräche sollen so erleichtert werden. Doch es kommt anders. Die Kinder unterhalten sich und spielen, wie Kinder nun mal sind. Dafür gesellen sich die Dolmetscher zu uns. Interessante Gespräche entwickeln sich. Ich lerne einen jungen Mann kennen. Er studierte Pädagogik, legte von 8 Jahren sein Examen ab. In den Schuldienst kam er nicht. Er war und ist nicht Mitglied der KPdSU. Nur eine nicht-kommunistische Zukunft kann er sich für sein Land als Perspektive denken. Wie er über die Golfkrise denkt, will ich später wissen. Ein wenig unsicher grinst er. "Die Golfkrise ist nicht mein Thema. Mich interessiert, wie ich morgen etwas zu essen bekomme, ob ich morgen eine Arbeit habe."

Die Schiffe legen wieder an. Von einer "Friedensfahrt" war nicht viel zu spüren. Eher ein kurzer Ausflug. Hier wird deutlich: Die vielen Friedensaktionen sind zum Teil sehr stark ritualisiert. Daß sie eine Wirkung, eine echte friedenserzieherische Wirkung auf die Kinder und auf uns haben, bezweifele ich.

Wir gehen zusammen in ein Restaurant. Wieder ist der Tisch reichhaltig gedeckt. Hier scheint es Versorgungsengpässe nicht zu geben. Sascha beugt sich zu mir: "Es gibt in der Sowjetunion 2 große Probleme: 1. die mangelnde Versorgung mit Lebensmitteln, 2. daß alle Menschen Übergewicht haben." Er wartet meine Reaktion ab. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.

Um 22 Uhr brechen wir wieder nach Kursk auf.

 

DIE PANZERSCHLACHT UM KURSK

 

Sonntag, 2.9.1990

 

Morgens steht eine Stadtrundfahrt auf dem Programm. Wir besuchen eine Kathedrale. Es herrscht großer Andrang. Ein Braut-paar läßt sich vom Erzbischof persönlich trauen. Danach folgt schon das nächste. Wir besuchen die Gedenkstätte für die Opfer des 2. Weltkrieges. Gerade Kursk hat sehr gelitten. Hier fand die größte Panzerschlacht dieses Krieges statt. 1500 solcher Ungetüme nahmen daran teil. 50 Tage und Nächte war Kursk umkämpft. Es gab nicht einen Quadratmeter, der nicht mit Trümmern bedeckt war. Den Rest besorgte die deutsche Luftwaffe. Zu 80 % lag diese Stadt in Schutt und Asche. Zum 40. Jahrestag der Befreiung errichteten die Bürger der Stadt in Eigenregie diese riesige Gedenkstätte. Stumm legen wir dort Blumen nieder.

Schon geht es weiter. Wir besuchen das Heimatmuseum. Die gesamte russische Geschichte entfaltet sich uns. Die Herrschaft der Zaren, die Revolution, Stalin, der 2. Weltkrieg, der Wiederaufbau. Ein großes Gemälde zeigt noch einmal die Panzerschlacht: Verwüstung, Blut, Tod. In einem Prospekt der Stadt Kursk wird diese Episode besonders hervorgehoben: Es war die beste Operation des 2. Weltkrieges.

Für wen? Für die vielen jungen Deutschen und Russen, die in diese Schlacht geschickt wurden und dort elendig krepierten?

Die faschistischen Horden seien damit zurückgeschlagen worden. Bedenkt man die vielen Grausamkeiten, die auf deutscher Seite begangen wurden, nicht nur von der berüchtigten SS, fast möchte man dieser Begrifflichkeit zustimmen. Aber dann denke ich an meinen Onkel, der hier am Rußlandfeldzug teilnahm. Alle seine Feldbriefe habe ich gelesen. Nein, ein Faschist war er nicht, auch nicht ein Hordentier. Eher ein fast noch kleiner Junge, betrogen und belogen. Doch dieses Differenzieren zu verlangen, geht wohl zu weit.

Wir erreichen das Ende des Museums, werden plötzlich auf einen kleinen Raum aufmerksam, der erst seit kurzem eingerichtet sein muß. Selbst unsere Dolmetscherin Galina, die viele Touristen durch die Stadt führt, kennt ihn noch nicht. Das erste, was mir auffällt, sind 5 Gewehrläufe, die von der Wand auf uns gerichtet sind. Darüber ein großes Zitat: "Das Leben ist schön!" Darunter in kleinen Buchstaben: "Wir haben Dir so sehr geglaubt, Genosse Stalin."

Man beginnt vorsichtig, den Stalismus aufzuarbeiten. Ganz vorsichtig. Die Art und Weise erinnert mich an die Anfänge der Aufarbeitung des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik. Die Verantwortung für die vielen Verbrechen des Stalinismus wird allein auf die Person Stalins projiziert. Noch. Und: Wir haben davon wirklich nichts gewußt. Bis in die Wortwahl hinein: Ähnlichkeiten.

Wir stoßen auf ein Plakat. Ein Riß geht durch Stalins Kopf. Auf der einen Seite: der grausame Diktator, auf der anderen: der große Feldherr, der die Sowjetunion siegreich aus dem Großen Vaterländischen Krieg führte. Gerade die alten Menschen in der Sowjetunion leiden an der Aufdeckung der stalinistischen Vergangenheit. Sie haben fast ihr ganzes Leben in diesem System verbracht, dafür gearbeitet, dafür gelebt. Sie fühlen sich belogen, um ihr Leben betrogen.

 

Nach dem Mittagessen fahren wir mit einer Familie hinaus ins Grüne. Picknick im Freien. Wir grillen. Für eine Stunde setze ich mich von der lustigen Gesellschaft ab, gehe allein am Fluß spazieren. Ich genieße die weite russische Landschaft, ein wenig hügelig, kaum Wälder. Auf einem Stein fin-de ich einen kleinen Ruheplatz. Ich schließe die Augen....Die Stille wird jäh durchbrochen. Panzerketten dröhnen. Granaten schlagen ein. MG`s rattern. Die wunder-schöne Landschaft - noch eben so genossen - verwandelt sich in ein Aufmarschfeld. Deutsche Soldaten stürmen voran, nehmen in Besitz, zerstören. Aus vielen Filmen sind diese Bilder bekannt - und mir aus den "Feldbriefen" meines Onkels. Erst 1948 kehrte er aus russischer Gefangenschaft heim. Als er - kaum erkannt - vor dem Hause seiner Mutter steht, war sein erster Satz: "Fragt mich alles, aber fragt mich nie nach Rußland!"

Von weitem ruft plötzlich jemand meinen Namen. Ich öffne die Augen, atme tief durch. Um mich herum wieder Gräser und Blumen - unzerstörte Landschaft. Die Zeit heilt Wunden. Alexander rief mich. Die Würstchen auf dem Grill sind gar.

Abends sitzen wir in der Wohnung von Alexander und Tatjana. Im Fernsehn verfolgen wir die Nachrichten. Die Bilder zeigen den Count-down für den nächsten großen Krieg, der unausweichlich scheint. Galina übersetzt: Mrs. Thatcher wird interviewt: "Ohne Militär gehen die Iraker aus Kuwait nicht heraus." Über die Reise des UN-Sekretärs in den Irak wird berichtet. Er selbst erklärt seine Mission für gescheitert. Präsident Bush spricht: "Auf dem Gipfel mit Staatspräsident Gorbatschow werden wir alle wichtigen Fragen der internationalen Politik erörtern." In Frankreich trifft sich Staatspräsident Mitterand mit der Opposition. Die gemeinsame Route für den Ernstfall wird abgeklärt: Burgfrieden! Dann Bilder von amerikanischen Soldaten. Reservisten werden eingezogen. Die Mobilmachung läuft auf Hochtouren. In einer Fabrik werden am Fließband Gewehrpatronen hergestellt.

Also auch hier: Die Medien auch in der Sowjetunion stellen ihre Zuschauer auf den großen Tag ein.

 

"Wir reichen Ihnen die Hand!"

 

Montag, 3.9.1990

 

Am Montag morgen: Empfang im Haus des sowjetischen Friedenskomitees Kursk. Als wir das Gebäude betreten, warten auf uns schon eine Reihe gut gekleideter Damen und Herren. Doch die Medien haben den Vortritt. Die Presse fotographiert die Gäste aus der fernen Bundesrepublik, das Radio verlangt ein Interview, die Fernsehkamera läuft.

Dann der Empfang. Valentina, die stellvertretende Vorsitzende des Komitees, begrüßt uns offiziell: Freundschaft und Völkerverständigung wird das Wort geredet. Ich erwidere im Namen unserer Delegation: "Wir möchten Sie kennenlernen. Die Entspannungspolitik zwischen den Völkern muß durch die Freundschaft der Menschen von unten ergänzt und getragen werden." Die Fragerunde ist eröffnet. Unsere erste Frage - wie sollte es anders sein - gilt der Vergangenheit. Kriegsveteranen sitzen am Tisch: "Können Sie vergessen? Können Sie verzeihen?" Ein kleiner Mann steht auf, atmet kurz durch und beginnt: "Ich habe viel Blut gesehen, viele Verbrechen, von deutschen Soldaten begannen. Es war ein schrecklicher Krieg. Auch von russischer Seite wurde Ihrem Volk viel Leid angetan. Nun, vergessen werde ich nie. Aber ich hege keinen Haß mehr. Und das ist für mich sehr viel. Bestellen Sie das den Männern in Ihrer Stadt, die damals auf deutscher Seite kämpften. Wir reichen Ihnen die Hand, aber es fällt uns noch sehr, sehr schwer."

Olga, der jüngeren Generation angehörig, die eigentlich während unserer Reise nur selten die Vergangenheit anspricht, ergänzt: "Erst gestern erfuhren wir, daß unser Onkel in Ostpreußen gefallen ist und dort begraben liegt. Mein Opa starb in der Kursker Schlacht. Als Kind sah ich, wie meine Tante von Deutschen erschossen wurde. Das Haus meiner Cousine wurde von der Wehrmacht beschlagnahmt. Ein Militärstab fand dort Unterschlupf. Verstehen Sie? So ist es in vielen Familien."

Wir verstehen.

Dann geht es um aktuelle Probleme: "In 5 Jahren existiert die Sowjetunion in der derzeitigen Form nicht mehr. In 5 Jahren spielt die KPdSU kaum noch eine Rolle." Die Provokation unsererseits sitzt. Aufgeregte Diskussionen zwischen den Mitgliedern des Friedenskomitees - auf russisch. Dann eine Antwort - für uns übersetzt:

"Sie mögen recht haben. Wir haben große Probleme: 1. Wie soll unser Staat in Zukunft aussehen? Eine Föderation? Ein Staatenbund? 2. Welche Entwicklung hat die Wirtschaft zu nehmen? Reine Marktwirtschaft? Gelenkte Marktwirtschaft? Gibt es vielleicht doch den dritten Weg? 3. Wie geht es mit unserer Partei weiter? Welche Rolle soll sie in der Gesellschaft spielen? Schlüssige Antworten auf diese Fragen haben wir nicht."

Eine andere Antwort: "Wir haben nie einen kommunistischen Staat gehabt und werden ihn nie haben. Laßt uns einen Staat bauen auf der Grundlage des Humanismus." Das sagt einer, der schon lange Jahre Mitglied der KPdSU ist.

Pause.

Margret hat eine westfälische Spezilität mitgebracht: Schwarzbrot mit Schinken. Ein Hauch von Münsterländer Atmosphäre. "Haben Sie Kinder?" will eine Frau wissen. Ich reiche ihr die Fotos meiner Kinder. Bilder von ihrer Familie kommen zurück. Diese Mischung aus offiziellen politischen Gesprächen und sehr persönlichen Begegnungen, aus Diskussion und sehr viel Nähe - sie spiegelt gut das Gesamtbild unserer Reise wider.

Und weiter geht es mit dem politischen Gespräch: Die deutsche Vereinigung steht zur Diskussion ...

Nach 3 Stunden der Abschied.

Besonders herzlich drücke ich dem kleinen Veteranen die Hand. Nikolai heißt er. Ich überreiche ihm eine kleines Geschenk: Eine Feldpost meines Onkels aus Rußland an seine Schwester. Ich lese ihm den Brief vor. Meine Traurigkeit kann ich kaum verstecken.

 

Nachmittags steht Kultur auf dem Programm. Wir besichtigen ein Schloß, das jetzt als Sanatorium der KPdSU fungiert. Auf dem Weg dorthin diskutieren wir mit Alexander Gusev über Tschernobyl. Alexander ist Direktor eines ökologischen Institutes in Kursk.

500 km ist der Katastrophenort von hier entfernt. Während der ganzen Fahrt zum Schloß hält der Wissenschaftler einen Geigerzähler in seiner Hand, zeigt immer wieder auf den kleinen Zeiger: "Erhöhte Werte gibt es hier nicht," bemüht sich Alexander uns zu beruhigen. Natürlich stehe er - wie viele Menschen in Kursk - der Kernenergie skeptisch gegenüber: "Sie muß überwunden werden!" Nur wie - das weiß er auch nicht. Uns fällt seine große Gläubigkeit an die Wissenschaft auf. Skepsis hält er hier nicht für angebracht. Dennoch verbindet die grundsätzliche Ablehnung der Kernenergie.

Im Sanatorium wartet nach der Besichtigung wieder ein reichhaltig gedeckter Abendessentisch auf uns. Trinksprüche begleiten uns. Wir sollen von unserer Friedensarbeit erzählen. Man hört aufmerksam zu. Bei der "BoA"-Kampagne allerdings gucken uns ungläubige Gesichter an. Ganz abrüsten? Und wie soll eine Sicherheitspolitik ganz ohne Armee funktionieren? Hinweise auf Soziale Ver-eidigung und internationale Vertragssysteme können nicht überzeugen: "Zwischen Stalin und Hitler gab es auch einen Nichtangriffspakt," wirft Valentina zynisch ein. Nein, auf die Rote Armee lassen diese Friedensleute des Komitees nichts kommen. Abrüstung, kontrolliert und international vertraglich abgesichtert, dafür setzen sie sich ein, engagieren sich für Völkerverständigung. Aber die Rote Armee ganz abschaffen. "Was wäre passiert, wenn die Rote Armee nicht im Süden unserer Union gegen die rivalisierenden Völker vorgegangen wäre?"

Wir passen zunächst einmal, treten den Rückzug an: "Eine Bundesrepublik ohne Armee, das ist eine provizierende Aktion, die Diskussionen über eine Entmilitarisierung auslösen soll. Fertige Konzepte dafür haben wir auch noch nicht. Aber wir wollen, daß zumindest mal die Möglichkeit einer Welt ohne Armeen gedacht und diskutiert wird. Dieses Ziel verfolgen wir doch. Vielleicht können mal unsere Kinder ohne Waffendrohungen friedlich mit- und nebeneinanderleben." Hier stimmen unsere Gastgeber wieder mit uns überein. Es wird das Glas erhoben.

 

 

"WIR SIND ALLE MENSCHEN!"

 

Dienstag, 4.9.

 

Im Mittelpunkt dieses Tages steht der Besuch beim Erzbischof von Kursk und Belgorod. Während des Empfangs im Sowjetischen Friedenskomitees - seine Exilenz ist selbst Mitglied des Komitees - sprach er die Einladung zu einem Privatbesuch in sein Haus aus. Jetzt stehen wir vor der Tür. Der Bischof bittet uns herein, heißt uns herzlich willkommmen. Zuerst zeigt er uns seinen Arbeitsplatz, dann lädt er uns zum Tee ein. Als wir das Wohnzimmer betreten, strahlt uns ein fürstlich gedeckter Tisch entgegen. Tausende von Köstlichkeiten - liebvoll zubereitet - befinden sich auf dem feierlich geschmückten Tisch. Jeder Teller ist umrandet von einer Gläsergalerie: Wein, Wasser, Bier, Wodka werden kredenzt.

Das Gespräch enttäuscht uns: Erhofft hatten wir von dem kirchlichen Würden-träger, seine Einschätzung der politischen Situation und Entwicklung zu erfahren, hatten gedacht, daß wir hier mal andere Aspekte der Politik der Sowjetunion serviert bekommen. Doch wie viele auch seiner deutschen Berufskollegen predigt der gute Mann. Er legt uns den christlichen Friedensbegriff nahe: "Wir sind alle Menschen. Das zählt. Uns interessiert nicht, ob einer Jude, Christ, Kommunist, Schwarzer oder Weißer ist. Wichtig ist, ob er ein guter oder ein schlechter Mensch ist." So einfach kann das sein. Wenn doch alle Menschen so dächten!

Aufmerksam hören wir zu, als er seine Geschichte erzählt. Sein Vater wurde ein Opfer des Stalinismus. Die Kirchen konnten nur unter großen Repressalien weiter existieren. Jetzt - im Zeichen der Perestroika - wird ihm wöchentlich eine Kirche vom Staat zurückgegeben - marode und verfallen. Die Kultur des Kommunismus! Wie sie restauriert werden können? Der Bischof hat darauf auch keine Antwort. Es wird viel Geld kosten. Auf einem Videofilm zeigt uns der Bischof sein Paradepferd: ein Kloster, das derzeit wiederaufgebaut wird.

Beim Abschied werden Geschenke ausgetauscht. Schnell noch ein Bild für die heimische Zeitung. Das glaubt uns in Nottuln sonst niemand. Erst recht nicht der katholische Dechant.

Unsere heiß erkämpfte Einzelfreizeit beginnt. Ohne Dolmetscher, ohne Gastgeber können wir durch Kursk gehen. Wir sind gespannt, wie wir - allein auf uns gestellt in dieser fremden Stadt fertigwerden.

Wohin gehen Touristen zunächst? Natürlich ins Kaufhaus. Erwartet hatten wir leere Regale. Reges Treiben strömt uns entgegen. Klar, verglichen mit westlichen Konsumhallen gibt es hier wenig. Dennoch erhält man alles, was zum täglichen Leben gehört: Lebensmittel, Kleidung, Elektronik. Nunja, ein wenig interessanter hätte das Outfit der Ladentheken sein können. Aber jegliches Fehlen von Reklameduselei hat auch eine angenehme Seite.

Nach einem kurzen Bummel besuchen wir ein Restaurant. Dort verbringen wir - gut gelaunt und zum Schluß von reichlich Wodka leicht benebelt - den Abend. Eine Musikkapelle spielt. Es wird ausgelassen getanzt. An einem Nachbartisch sitzt eine Gruppe junger Leute. Ein Mädchen fällt mir auf. Wenn die Musik zum Tanz ruft, bleibt sie sitzen, wirkt fast traurig. Ich fasse Mut, nehme das Wörterbuch und gehe zu ihr. "Möchten Sie mit mir tanzen?" Diese Zeile - im Wörterbuch unter der Rubrik "Geselligkeit und Flirt" zu finden - halte ich ihr vorsichtig hin. Ein fragenden Blick dazu. Sie nickt. Ich hätt' es nicht geglaubt. Auf den Weg zur Tanzfläche nimmt sie meine Hand. Einmal ein russisches Mädchen in meine Arme schließen! Meine "weite russische Seele" ist gerührt.

 

Auf dem Heimweg zum Hotel muß ich an die Jugendbrigade im Trikotagen-Kombinat denken, die wir morgens besuchten. Die jungen Leute zeigten uns ihren Arbeitsplatz und sprachen über ihre Freizeit. Aufmerksamkeit erregte bei uns, daß viele Jugendbrigaden - als Arbeitseinheiten in den Betrieben - gefallene Soldaten des 2. Weltkrieges zu ihren Mitgliedern zählen. Jede Brigade wählt sich ihren "Held", re-cherchiert genau seine Geschichte, nimmt Kontakt mit der Familie auf und - das erstaunlichste - arbeitet für diesen Toten mit. Das Geld, das so mehr verdient wird, wird dem Friedenskomitee zur Verfügung gestellt. Eine Idee und Einstellung, die ungewöhnlich ist.

 

"MARMOR, STEIN UND EISEN BRICHT..."

 

Mittwoch, 5.9.

 

Wir fahren zu unserer letzten Veranstaltung. Die Gewerkschaften haben uns eingeladen. In einem großen Saal sitzen Bibliothekarinnen, die derzeit im Haus der Gewerkschaften einen Kurs be-egen. Mit großer Herzlichkeit werden wir begrüßt. Ein reges Gespräch entwickelt sich: wirtschaftliche Probleme, Situation der Gewerkschaften, Jugend in der Bundesrepublik. Still wird es, als Margret ihren Lebensweg und somit auch ein Stück Frauenproblematik in der Bundesrepublik erzählt. Jürgen muß unbedingt über die Gründung seines Handwerkbetriebes berichten. Zwischendurch Musik. In Trachten gekleidete Frauen tragen russische Volkslieder vor. Natürlich erwidern wir: Marmor, Stein und Eisen bricht. Eine kleine Frau erhebt sich. Gemeinsam singen wir ein russisches Liebeslied, dessen Melodie um die Welt ging.

 

Am Abend dann der Abschied. Noch auf dem Bahnhof singen wir gemeinsam, freuen uns, Freundschaften sind geschlossen. "Marmor, Stein und Eisen bricht ..." Der Zug nach Moskau rollt ein. Valentina und Alexander fahren mit.

 

 

"IHR SEID JETZT AUCH IN DEM STRUDEL DER POLITISCHEN LEIDENSCHAFTEN!"

 

Donnerstag, 6.9. und Freitag, 7.9.

 

Moskau hält ein umfangreiches Programm für uns bereit. Der Tag beginnt mit einer großen Diskussionsrunde. Prominente aus der Sowjetunion und aus Deutschland sitzen auf dem Podium. Alle wesentlichen Themen der vergangenen Tage werden hier noch einmal diskutiert. Beeindruckend der Abend. Der berühmte russische Schriftsteller Tschingis Aitmatow hat sich für 2 Stunden Zeit genommen, um mit der deutschen Delegation zu sprechen. Bedächtig und gewählt redet er und interpretiert die gegenwärtige Entwicklung seines Landes:

"Freiheit setzt riesige Kräfte frei, auch negative!"

"Unser öffentliches Leben ist nun recht kompliziert geworden. Wir erleben verdammt schwierige Zeiten."

"Auch Deutschland steht vor schwierigen Zeiten. Unsere Perestroika ist die Vorfließerin einer neuen Entwicklung, die auch in Deutschland und Europa greifen wird. Das neue Denken wird auch Ihr Land ergreifen. Die Wiege dieses Prozesses steht hier."

"Wir haben den Krieg zwar gewonnen, aber die Blüten des Sieges haben keine Früchte für uns gebracht. Die Konsequenz für uns: Die Besiegten haben den Totalitarismus überwunden und damit den Grundstein für Wohlergehen gelegt."

Nach dem Vortrag wird die Runde freigegeben. Ein alter Mann tritt auf, obdachlos, verwahrlost, ohne Arbeit und Pass. "Wer hilft mir?" brüllt er verzweifelt. "Ich war in den stalinistischen Lagern." Die Organisatoren des Friedenskomitees werden nervös. Sie wollen "diese Störung" nicht hinnehmen, versuchen den Mann zu beruhigen und - wie gewohnt? - ruhigzustellen.

Aitmatow interveniert: "Er darf weiterreden! Ich will ihn hören!" Der Mann erzählt sein persönliches Schicksal. Der Schriftsteller hört aufmerksam zu. Zum Ende bietet er als Volksdeputierter seine Hilfe an. Dann wendet er sich an die Diskussionrunde, versucht Verständnis für diesen Mann zu wecken. "Die Fehler und die Unmenschlichkeit des Systems zeigen sich in diesem Mann. Bitte verstehen Sie ihn!"

Ein Teilnehmer der Diskussion weist später auf den Konflikt zwischen den Teilrepubliken und Moskau hin, kritisiert die Rolle der Zentralgewalt. Aitmatow läßt diese Kritik zu, interpretiert sie jedoch auf seine Weise: "Meine Lieben, Ihr habt die Basis gesucht und gefunden und seid jetzt auch in dem Strudel der politischen Leidenschaften. Wir dürfen aber diesen Leidenschaften nicht erliegen, sondern Integration ist notwendig ... Das gemeinsame Zusammenleben mit einer gemeinsamen Infrastruktur darf nicht völlig zerstört werden."

Auf dem Rückweg von diesem Abend ist Kritik zu hören. "Nichts Konkretes!" "Nur allgemeines Geplänker!" Vergessen werden darf nicht: Der Schriftsteller Aitmatow ist momentan Politiker. Er gehört dem Präsidialrat Gorbatschows an. Hüten wird er sich, konkrete politische Meinungen gar noch zu so konfliktträchtigen Themen wie der Zukunft der Sowjetunion im Rahmen einer Diskussionsveranstaltung mit einer kleinen deutschen Delegation zu verkünden. Indirekt bat er dafür auch um Verständnis: "Glauben Sie mir, wenn wir unter uns sind, dann fliegen die Fetzen!"

 

Der letzte Tag der Reise beginnt mit einem ökumenischen Gottesdienst im Kloster Swjato-Danilowski, dem Sitz des Patriarchen Alexi, Oberster Kirchenmann der russisch-orthodoxen Kirche. In der Predigt - gehalten von einem deutschen Delegationsteilnehmer - wird auf den gleichen Ursprung aller Menschen und Völker hingewiesen: "Sehen wir durch das Erkennen der Unterschiede das Gemeinsame!"

Am Grab des unbekannten Soldaten legen wir Blumen nieder. Die ältere Generation der bundesdeutschen Delegation führt uns dabei an, allen voran ein Mann, der im Krieg in Rußland ein Bein verlor: "Die vielen Toten sind uns eine ewige Mahnung!"

Politischer Höhepunkt in Moskau: der Empfang im Kreml. Im Präsidialamt des Obersten Sowjet begrüßt uns Laptew, Vor-sitzender der Kammer der Union im Obersten Sowjet: "Willkommen im Herzen der Sowjetunion!" Eine Stimmung von Erfurcht machte sich beim Betreten des Gebäudes breit, die breiten Treppen, die ausgerollten Teppiche, die Weite der Räume und Flure trugen dazu bei. Fast 2 Stunden nimmt sich Laptew Zeit, eine 3/4 Stunde länger als geplant. So ist das eben bei wichtigen Gesprächsterminen mit ausländischen Gästen. "Die Atmosphäre war sehr entspannt und freundschaftlich. Wir haben über alle wichtigen Fragen der bilateralen Beziehungen gesprochen. Höhepunkt war die Übergabe des von den Menschen unserer beider Staaten ausgearbeiteten Friedensvertrages..." So ähnlich würde unsere Stellungnahme vor laufenden Kameras im Anschluß an diesen "Staatsbesuch" ausfallen, um sie live über die Tagesschau in bundesdeutsche Wohnzimmer zu senden. Nur - außer 3 Fotographen - waren die Medien nicht vorhanden. Alles hat eben seine Ordnung und seine Dimension.

Auf der Fahrt in den Kreml sitze ich neben einer älteren Frau. Sie wirkt sehr aufgeregt. Nach zwei Sätzen verstehe ich sie gut: "Ich wußte doch, was auf mich zukommt! Warum mußte ich weinen, einfach losheulen?" Die Blumenniederlegung am Grab des Unbekannten Soldaten hat sie aufgelöst. Ich finde, sie hat allen Grund, aufgeregt zu sein, hat sicher viele Gründe, auch zu weinen.

Überrascht zeigt sie sich davon, daß so viele junge Leute mit in die Sowjetunion gefahren sind, so viele junge Menschen dieses geschichtsträchtige Programm nicht nur erledigen, sondern mitleben. "Sie haben es doch nicht erlebt." Und sie beginnt vom Krieg zu erzählen: "Wir haben morgens ständig an den Fenstern gehangen, die Finger in die Gardinen gekrallt, auf den Briefträger gewartet - und gehofft, gefleht, daß er vorbeigeht. Die Nachrichten aus dem `Feld der Ehre' waren grausam." Mir fällt ein Bild von Kaschnitz ein: eine Mutter, die erfährt, daß ihr Sohn gefallen ist. Schieres Entsetzen!

 

Die letzte Mitternacht erleben wir auf dem Roten Platz. Was für eine Atmosphäre. Um 24 Uhr: Wachablösung vor dem Lenin-Mausoleum. Im Stechschritt kommt die neue Wache. Im Stechschritt verläßt die alte den Roten Platz. Bald, schon bald wird diese Tradition in das Museum der Geschichte verschwinden. Gott sei Dank. Und bald schon wird auch Lenin seine letzte Ruhe finden - vielleicht auf dem Zentralfriedhof. Er hat seine Schuldigkeit getan. Das neue Denken und die neue Gesellschaft bedarf seiner zur Festigung ihrer Ideologie nicht mehr. Ruhe sanft!

 

Die Nacht ist kurz. Früh am anderen Morgens werden wir geweckt. Es geht zum Flugplatz. Die Maschine startet. Noch einmal werfe ich einen Blick zurück auf die große Stadt, auf das große Land. Ich bin ganz sicher: Vergessen werde ich diese Reise nie und - ich werde wiederkommen.