Pressebericht
über die Fahrt in die UdSSR
"Bestellen Sie den Bürgern Ihrer Stadt die herzlichsten Grüße! Wir hoffen sehr, daß der begonnene Kontakt mit Nottuln weitergeht und vielleicht noch intensiviert werden kann." Mit diesen Worten verabschiedeten am Samstag Vertreter der Friedenskomitees aus der russischen Stadt Kursk und der karelischen Stadt Petrozavodsk 5 Mitglieder der Nottulner Friedensinitiative (Wilma Dirksen, Udo Hegemann, Jürgen Hilgers, Robert Hülsbusch und Margret Zumkley). Im Rahmen der 2. deutsch-sowjetischen Friedenswoche besuchten sie für 9 Tage die Sowjetunion. Ganz im Mittelpunkt standen die Begegnungen mit vielen Menschen in der Sowjetunion und zahlreiche Gespräche über die gemeinsame leidvolle Geschichte, aber auch über die aktuellen Entwicklungen in der Sowjetunion und in Deutschland. Auch mit hochrangigen Vertretern der sowjetischen Politik und Öffentlichkeit trafen sich die Besucher aus der Bundesrepublik. So wurden sie u.a. im Präsidialamt des Obersten Sowjets zu einem zweistündigen Gespräch mit dem Vorsitzenden der Unionskammer der sowjetischen Parlaments empfangen. In den nächsten Wochen wollen die Mitglieder der Nottulner Friedensinitiative ihren eindrucksvollen Besuch auswerten. In diesem Zusammenhang werden sie sich bemühen, die Kontaktwünsche der Menschen aus diesen beiden Städten zu realisieren.
Gleich
zu Beginn der Reise wurden die Gäste aus der Bundesrepublik mit der
Kriegsvergangenheit konfrontiert. Begrüßt wurden sie vom Vorsitzenden
des Moskauer Friedenskomitees bei den Panzersperren vor der sowjetischen
Hauptstadt: "Vor fast 50 Jahren kamen zu uns die Deutschen und überzogen
uns mit dem schrecklichsten Krieg, den die Geschichte je sah. Heute kommen
Sie, um uns Frieden und Freundschaft anzubieten. Herzlich willkommen!"
1942 und 1943 bauten die Einwohner rund um ihre Hauptstadt riesige Panzersperren,
um die deutschen Panzerverbände aufzuhalten. Drei dieser Sperren stehen
heute noch vor den Toren Moskaus - zur Erinnerung und zur Mahnung. Auch
in Kursk, wo sich die Mitglieder der Friedensinitiative Nottuln 5 Tage
aufhielten, war die Vergangenheit allgegenwärtig. "Bei fast allen
Treffen, in fast allen Gesprächen taucht diese auf," berichtete Robert
Hülsbusch. "Es gibt kaum eine Familie, kaum einen Menschen, der nicht
einen oder mehrere Angehörige im 2. Weltkrieg verloren hat." Einen
nachhaltigen Eindruck hinterließ bei den Nottulner Besuchern ein
Treffen mit Kriegsveteranen. Sehr ausführlich erzählten diese
ihre Erlebnisse während der deutschen Besetzung ihrer Heimat: "Wir
haben viel Blut und schreckliche Verbrechen, von deutschen Soldaten begangen,
gesehen. Aber wir wissen auch, daß die Rote Armee den Deutschen großes
Leid angetan hat," so ein Kriegsteilnehmer, heute ca. 70 Jahre alt. Diese
Zeit dürfe man nie vergessen und sei eine Verpflichtung, sich für
Frieden und Verständigung einzusetzen. Und mit der Bitte, den Männern
in Nottuln, die an dem Rußlandfeldzug teilnahmen, dies weiterzugeben,
sagte der alte Mann: "Wir reichen Euch die Hand, aber das fällt uns
doch noch sehr, sehr schwer." In diesem Gespräch erfuhren die Gäste
aus Nottuln auch nähere Einzelheiten, von der großen Panzerschlacht,
die 50 Tage und Nächte um Kursk tobte und viele Tote, Verletzte und
große Verwüstungen hinterließ. Durch zusätzliche
Angriffe der deutschen Luftwaffe wurde Kursk schließlich zu 80 %
zerstört.
Noch
unter dem Eindruck dieser Begegnung legten die Nottulner Gäste zusammen
mit ihren Gastgebern an der Kriegsgedenkstätte in Kursk Blumen nieder.
"Niemand wird vergessen! Nichts wird vergessen!" steht dort in großen
kyrillischen Buchstaben in Stein gemeißelt.
Ein
umfangreiches Programm hielten die Gastgeber aus dem Friedenskomitee für
die 5 Tage bereit. So wurde ein großes Textilkombinat besucht, wo
junge Arbeiterinnen und Arbeiter ihren Arbeitsplatz vorstellten. In dem
Kindergarten dieses Kombinats wurden die Gästen von den Kindern und
den Erzieherinnen herzlich begrüßt. Während eines Schulbesuches
bestürmten die Schüler die Gäste aus der Bundesrepublik
mit Fragen: Wie sehen die deutschen Schulen aus? Was machen die Jugendlichen
in der Bundesrepublik in ihrer Freizeit? Wollen alle Deutschen die Wiedervereinigung?
Die Lehrer zeigten großes Interesse an didaktischen Fragen und an
schulorganisatorischen Problemen. Einen ganzen Nachmittag besuchte Udo
Hegemann, von Beruf Kriminalbeamter, auf Einladung des Milizpräsidenten
das örtliche Präsidium. Auch hier sah er sich vielen Fragen gegenübergestellt.
Das besondere Interesse der Kriminalbeamten galt der politischen Einbettung
der bundesdeutschen Polizei. Unvorstellbar war ihnen - so Udo Hegemann
-, daß die Polizei einer Stadt nicht der Verwaltung direkt unterstellt
sei. "Dann ist es ja sogar möglich," staunte ein Milizpolizist, "daß
die Polizei Angehörige der Verwaltung verhaften kann."
Wichtiger
noch als diese offiziellen Kontakte waren den FI-Mitgliedern aus Nottuln
jedoch die vielen inoffiziellen Begegnungen mit den Menschen und deren
Alltag. Gerade in den Familien erlebten sie die russische Gastfreundlichkeit.
In den wenigen Tagen wurde aus diesen herzlichen Begegnungen ein freundschaftliches
Verhältnis. Da wurde gesungen, gefeiert und gelacht. Bis in die Nacht
hinein fanden angeregte Gespräche statt.
Natürlich
stand gerade der umfassende Umbau der sowjetischen Gesellschaft (Perestroika)
im Mittelpunkt dieser Diskussionen. "Wir haben niemanden getroffen," erzählte
Jürgen Hilgers, "der nicht die Notwendigkeit der Einführung der
Marktwirtschaft vertrat." Gleichzeitig sei jedoch große Ratlosigkeit
darüber anzutreffen, wie diese riesige Reform zu bewerkstelligen sei.
Hilgers: "Die Folgeprobleme wie Arbeitslosigkeit sind für viele Menschen
noch gar nicht vorstellbar." Aber auch Reizthemen wie der Stalinismus und
Tschernobyl wurden nicht ausgeklammert. Eine besondere Ehre wurde den Nottulnern
zuteil, als der Erzbischof von Kursk und Belgorod sie zu einem Privatbesuch
in sein Haus einlud. Hier erläuterte er ihnen die Probleme seiner
Kirche in der stalinistischen Vergangenheit. Die Perestroika brächte
den Kirchen wieder größere Freiräume und eine Annäherung
der Menschen in dem Land. Die Friedensbotschaft laute: "Wir sind trotz
vieler Unterschiede alle Menschen. Nur das zählt!"
Großes
Interesse fand der Nottulner Besuch in Kursk auch in den dortigen Medien.
So berichteten nicht nur die örtliche Prawda und das Fernsehn. Das
Radio sendete gar ein Interview mit Robert Hülsbusch, in dem dieser
die Hintergründe der Reise erläutern konnte.
Während
vier der Nottulner Friedensinitiative in Kursk zu Gast waren, weilte Wilma
Dirksen in Petrozavodsk, der Hauptstadt Kareliens. Diese Republik liegt
im hohen Norden der Sowjetunion an der Grenze zu Finnland. Auch ihr Besuchsprogramm
war sehr vielseitig. So besuchte sie die großen Naturschutzgebiete
dort und besichtigte viele Kulturgüter. Besuche von Fabriken und Hafenanlagen
standen ebenfalls auf dem Programm. Besonders beeindruckt zeigte sich die
Nottulnerin von dem Leben in der Gastfamilie. In einer sehr offenen Atmosphäre
wurde hier über alle Themen gesprochen. Hier konnte sie auch die alltägliche
Probleme der Menschen dort hautnah miterleben. Wilma Dirksen: "Gerade die
Versorgung bereitet den Menschen in dieser Stadt viele Kopfschmerzen. Aber
häufig tragen sie diese auch mit Gelassenheit und Humor." Mit ihren
kleinen Privatgärten (Datschen) könnten sie zudem oft die ärgsten
Engpässe überwinden.
Zwei
Tage vor dem Abflug nach Frankfurt trafen sich dann alle Teilnehmer der
Reise wieder in Moskau, wo ein weitere Höhepunkt auf sie wartete.
Nach einer Diskussion mit dem bekannten russischen Schriftsteller Tschingis
Aitmatow, der mittlerweile zum engen Beraterstab von Gorbatschow gehört,
wurde die deutsche Delegation offiziell im Kreml empfangen. Der Vorsitzende
der Unionskammer des Obersten Sowjet Herr Laptew (vergleichbar mit dem
Bundestagspräsidenten) nahm sich 2 Stunden Zeit, um mit den Gästen
Fragen der aktuellen Politik zu diskutieren. Ausführlich erläuterte
er die Abkehr von der Ideologie in der Wirtschafts-, Innen-und
Außenpolitik. Zum Schluß des Gesprächs wünschte er
den Deutschen alles Gute für die Vereinigung. Daran hätte die
Sowjetunion ein großes Interesse. Ein Vertreter der Gäste erläuterte
dann dem Vorsitzenden der Unionskammer den Friedensvertrag, der zuvor zwischen
der bundesdeutschen Friedensbewegung und dem sowjetischen Friedenskomitee
ausgehandelt worden war. In diesem Vertrag verpflichten sich beide Seiten,
darauf zu drängen, daß in Europa Sicherheit nur noch politisch
hergestellt wird. In diesem Zusammenhang sehen die Nottulner auch ihre
Reise in die Sowjetunion. Am Samstag abend kamen sie wieder wohlbehalten
in Nottuln an. Es wird nicht ihre letzte Fahrt in dieses große Land
sein.
Mit freundlichem Gruß