Konkrete Hilfsangebote
und gemeinsame Perspektiven
Ein
Erfahrungsbericht aus Nottuln und Havixbeck
"Auf
Wiedersehen in Kursk!" Türen schlagen, Taschentücher werden gezückt.
Der Zug setzt sich in Bewegung. Wenig später verläßt der
IC den Hauptbahnhof Münster, um unsere Gäste aus Rußland
nach Frankfurt zu bringen. Dort werden sie das Flugzeug nach Moskau besteigen.
Mit dem Nachtzug geht es weiter bis in die Heimatstadt Kursk, eine Stadt
500 km südlich von Moskau. Die Strecke ist mir wohl bekannt. Vor genau
einem Jahr bin ich sie zusammen mit vier weiteren Mitgliedern der Friedensinitiative
Nottuln und des Friedensforums Havixbeck1) gefahren, habe ich
die 500.000 Einwohner zählende Stadt kennengelernt. Die 2. deutsch-sowjetische
Friedenswoche (1990), organisiert vom Sowjetischen Friedenskomitee und
- auf deutscher Seite - vom Netzwerk Friedenskooperative und vom Christlichen
Friedensdienst, ermöglichte uns diese Fahrt und die vielen Kontakte,
die sich daraus ergaben. Klar, daß für die 3. deutsch-sowjetische
Friedenswoche (1991), die wie die 1. Aktion dieser Art (1989) wieder in
der Bundesrepublik stattfinden sollte, von Nottuln und Havixbeck aus Einladungen
nach Kursk gingen. Waren die ersten beiden Friedenswochen noch zentral
organisiert, so wurden während der jetzt stattfindenden 3. Friedenswoche
die vielen Kontakte, die sich aus den vorangegangenen Begegnungen zwischen
deutschen und sowjetischen Friedensbewegten ergaben, genutzt. Jede Friedensgruppe
lud für sich Gäste nach Deutschland ein. Das Netzwerk Friedenskooperative
und der Christlicher Friedensdienst mußten nur noch geringe organisatorische
Unterstützung leisten.
Und
so trafen unsere Gäste aus Kursk dann am Mittwoch abend (13.11.) in
Nottuln und Havixbeck ein: Lidia Timofejewa, Leiterin der Kulturabteilung
des Gebietsgewerkschaftsrates, Eduard Mossolow, Leiter der Finanzverwaltung
der Region Kursk, und Gennadij Bojew, Student und Dolmetscher der kleinen
Delegation.
Vorbereitet
war diesmal kein ausgefeiltes Programm mit vielen offiziellen Kontakten.
Kursk ist mittlerweile in Havixbeck und Nottuln bekannt. Sowohl die Besuche
aus Kursk als auch unsere Fahrt dorthin wurden ausführlich in der
örtlichen Presse dargestellt. Bei den Bürgermeistern und den
Räten unserer beiden Gemeinden fanden diese Kontakte Unterstützung.
Diesmal sollte der Besuch eher privat und das Programm weniger umfangreich,
streßfreier sein. Darüber hinaus sollte es mit den Besuchern
abgestimmt werden. Beides klappte nur ansatzweise: Auf die Möglichkeit,
das Programm selbst mitzubestimmen, waren unsere Gäste offensichtlicht
nicht vorbereitet: "Wir machen so, wie Ihr wollt," übersetzte Gennadij
nach einer kurzen Beratungspause, die unserem Mitbetimmungsangebot folgte.
Doch nach kurzer Eingewöhnungszeit nutzten die Gäste dann doch
die Möglichkeit, ihre Interessen einzubringen. Lidia drängte
darauf, Kontakte zur Kulturszene zu bekommen. Und sie wurde nicht enttäuscht.
Die Musikschule Havixbeck stellte sich vor und entschied schon nach kurzer
Zeit, im kommenden Jahr nach Kursk zu fahren. Ein Kulturaustausch soll
vorbereitet werden. In Nottuln bot die Musikschule an, für einen begrenzten
Zeitraum MusiklehrerInnen aus Kursk bei sich unterrichten zu lassen. Auch
Eduard artikulierte sein Hauptinteresse während dieser Fahrt. Er wollte
vor allem die Struktur der ländlichen Gemeinden kennenlernen. Besonders
interessierte ihn die finanziellen Bedingungen der Gemeinde. Schnell wurde
ein Gesprächstermin mit dem Nottulner Gemeindedirektor Joseph Moehlen
festgemacht. Ausführlich nahm sich dieser Zeit, um die wirtschaftlichen
Strukturen der bundesdeutschen Kommunen darzustellen. Infrastruktur und
Entwicklungsperspektiven einer Stadt wie Kursk wurden erläutert, fachliche
Tips unter Verwaltungsexperten ausgetauscht. In diesem Zusammenhang wurde
- wen wundert's - auch die sich zuspitzende Versorgungssituation in der
Sowjetunion allgemein und die in der Stadt Kursk im besonderen angesprochen.
Sichtlich davon betroffen, bot der Gemeindedirektor seine Hilfe an. Die
Unterstützung des Rates ist mittlerweile sicher: Für ein Kinderkeim
und für ein Altenheim in Kursk sollen konzentrierte Lebensmittel in
Nottuln zusammengestellt werden. Die Feuerwehr Nottuln wird mit einem eigenen
Lastzug diese in die russische Stadt bringen. Eine Spendenaktion - initiiert
vom Gemeindedirektor und Nottulner Rat - soll diese Hilfe finanzieren.
Aber auch längerfristig bot der Nottulner Verwaltungschef seine Hilfe
an. So erklärte er sich Eduard gegenüber bereit, auch junge Männer
und Frauen für ein halbes Jahr in der Nottulner Verwaltung auszubilden. "Know
how-Transfer!" Und
damit in Zukunft die Kommunikation zwischen Nottuln und Kursk reibungsarm
und schnell funktioniert, kündigte Moehlen Eduard an, ihm für
seine Behörde ein Telefax-Gerät zu schenken, wenn dort die technischen
Voraussetzungen gegeben seien.
Nun
liegt es an den Kurskern, diese Angebote aufzugreifen, diese in ihrer Stadt
zu besprechen und sich möglichst bald mit konkreten Antworten an Nottuln
und Havixbeck zu wenden.
Die
restliche Zeit der Friedenswoche war geprägt durch viele private Begegnungen.
Bei Wodka und Wein wurde gemütlich gegessen. Auf langen Spaziergängen
fanden intensive Gespräche statt. Natürlich mußten die
Gäste ausführlich erzählen, wie es in Kursk der und dem
so geht. Man kennt sich halt mittlerweile. Überraschend spielte die
gemeinsame leidvolle Vergangenheit kaum noch eine Rolle in den vielen Gesprächen.
Auch hier schleicht sich Normalität ab. Vieles scheint schon besprochen
zu sein. Noch im Juni waren ein Kriegsveteran zusammen mit seiner Frau
aus Kursk in Nottuln und Havixbeck gewesen. Anlaß war der 50. Jahrestag
des Überfalls auf die Sowjetunion. Gespräche über den Krieg
- auch mit der Kameradschaft ehemaliger Soldaten in Nottuln -, Kranzniederlegung
auf einem kleinen russischen Friedhof und ein Empfang beim Bürgermeister
sorgten dafür, daß in Nottuln und Havixbeck für eine kurze
Zeit die Vergangenheit wieder sehr wach wurde. Ein großer Schritt
in Richtung Versöhnung wurde getan, der Blick für eine gemeinsame
Zukunft frei.
Sehr
wichtig war den Gästen aus Kursk, sich ausgiebig in Geschäften
und Kaufhäusern umzusehen. Mit je 150 DM Taschengeld traten wir die
Reise nach Münster an. Besonderes Interesse fanden Cassettenrekorder
und elektrische Haushaltsgeräte. Viele Wünsche - wer die leeren
Regale auch in Kursk gesehen hat, der kann diese so gut verstehen - blieben
unerfüllt. Wenn wir im kommenden Jahr wieder nach Kursk fahren, werden
wir keine Schwierigkeiten haben, Gastgeschenke zusammenzustellen. Daß
wir fahren, daß wir uns auch an der 4. deutsch-sowjetischen Friedenswoche
beteiligen, daran besteht kein Zweifel.
Robert
Hülsbusch, Sprecher der FI Nottuln
1) 2 Gemeinden am Rand der Baumberge im Münsterland