Die “Straßenkinder“von Sawahreh

Eine Meditation über Wege des Friedens

 

Ich bin oft über sie hinweggegangen. Ich habe sie lange übersehen.

So wie die meisten Menschen auf der Hauptstrasse in Sawahreh.

Hunderte von ihnen sind hinausgeworfen, achtlos weggeworfen worden,

nicht mehr zur Kenntnis genommen.

Sie liegen wertlos im Staub der Strasse.

Sie sind unter die Räder des lauten Verkehrs geraten, tausendmal überfahren

und mit Füssen getreten.

Bis ich sie gesehen habe im Vorübergehen. Bis sie mich eines Tages angeschaut, sich mir gezeigt haben.

Jetzt kann ich sie nicht länger übersehen. Ich schaue sie an und nehme sie wahr.

Und es wird mir leicht, sie aufzuheben, sie in meine Hände zu nehmen.

Während ich sie vom gröbsten Dreck befreie, offenbart sich mir ihre verborgene Schönheit. Oder genauer: ich entdecke Schönes in mir.

Ich erkenne Gesichter in den Findlingen,  und schon werde ich selbst mit Anerkennung beschenkt.

Ich gebe ihnen Namen, und schon erhält mein Name einen anderen Klang.

Ich nehme die Kinder von der Strasse in mein Haus auf und stelle sie meinen Freunden vor. Und siehe, sie erhalten öffentliche Anerkennung.

Ich lasse zu, dass sie als kleine Wunder bestaunt werden. Und wir befinden uns in einer bunten und fröhlichen Gesellschaft wieder.

Während ich neues Leben wecke, erfahre ich meine Lebendigkeit neu.

All das kann ich erleben mit wenig Aufwand: ohne Hobbywerkstatt und ohne Mitglied in einer Organisation zu sein.

Achtsam und Gewahrsam sein kann so etwas. Mitfühlen, Hinschauen. Bunte Fantasie statt Schwarz-Weiss-Sehen.

Und etwas entschieden in die Hand nehmen.

Meine Straßenkinder von Sawahreh schenken mir einen neuen Zugang zu meinen inneren  Kraftquellen auf meinen Wegen des Friedens in der Welt.

Was ich den Kindern und den Menschen im friedlosen Palästina und Israel wünsche:

Dass sie gesehen und anerkannt werden, dass sie sich gegenseitig anerkennen.

Und den darauf gründenden gerechten Frieden für alle.

 

Von Herzen gerne teile ich diese Gedanken mit den Kindern und Familien in Sawahreh und den Freiwilligen vom EAPPI .

Ostern 2004 Franz-Roger Reinhard aus Sawahreh in Palästina

 

 

 

 

 

 

 

 

“Wer wird uns den schweren Stein wegwälzen?”

Ostern 2004

 

Liebe Freunde auf den Wegen des Friedens,

Ich grüsse euch herzlich aus dem fernen Palaestina. In Gedanken bin ich euch ganz nahe an diesem Ostermontag vor der Friedenskapelle auf dem Baumberg. Es ist nicht zuletzt dieser Ort und dieser Tag, an dem ich meine Friedenssehnsucht mit euch teilen kann. Ich weiss, wieviel Kraft von hier ausgeht.

Die Oster-Weg-geschichte vom Gang nach Emmaus (wer sie nicht kennen sollte, der soll sie sich von seiner Nachbarin erzählen lassen…)laesst etwas von dem erkennen, was sich hier und vermutlich auch uter euch ereignet: Sich auf den Weg machen, sich anschliessen, ins Gespräch kommen ueber das, was uns bedrückt. Und beim Zuhören auf andere Gedanken, zu einem anderen Blickwinkel auf die Ereignisse und schliesslich zu notwendigen Entschlüssen kommen.

Ich bin hier taeglich mit Menschen zusammen, die unter den schlechten Lebensbe-

dingungen leiden und schier verzweifeln. Seit der gezielten Toetung von Scheich Jassin im Auftrag der israelischen Regierung hat die Einschraenkung der Bewegungsfreiheit fuer die palaestinesische Bevoelkerung in meinem unmittelbaren Umkreis erheblich zugenommen. Der Weg zum Frieden hierzulande scheint durch riesige Felsbrocken und hohe Betonmauern versperrt. Da draengt sich die Frage vom Ostermorgen auf: ”Wer wird uns diesen schweren Stein vom Eingang des Grabes wegwälzen?”

Tatsaechlich fuehlen sich viele Menschen in Palaestina durch den Bau der Trennungsmauer eingesperrt, lebendig begraben, weil von der lebensnotwendigen Versorgung abgschnitten.“Man erlaubt uns nicht einmal zu sterben,” sagte mir ein Mann aus dem Ort, in dem ich fuer drei Monate lebe. “Der Friedhof liegt auf der anderen Seite der Mauer.”

Beim Aufschauen sehen die niedergeschlagenen Frauen, dass der Stein schon hinweggewaelzt ist! Nicht weglaufen vor den grossen Schwierigkeiten; Hinschauen, zusammen Gehen kann veraendern, vieles verruecken.

Wir koennen heute unsere Hoffnung zusammenbringen und teilen. Dabei sollten wir uns nicht mit billigen Versprechen der Machthabenden austrixen oder ablenken lassen.

Ich wuensche uns jene im Glauben an Frieden und Gerechtigkeit gegründete Hoffnung, die staerker ist als Dynamit, und deren Wurzeln jede Mauer unterlaufen und baufällig werden lassen….

Liebe Freunde, ich sehe hier mitten im Kampfgetümmel und zwischen aller Konfusion kleine Inseln eines neuen Bewusstseins auftauchen, verkoerpert in einzelnen friedfertigen Menschen. Und die Inseln sehe ich aufeinander zutreiben. Eines Tages bilden sie ein begehbares Festland, auf der eine erneuerte Menschheit Fuss fassen kann…(Roger, der Traeumer…!)

Jetzt freue ich mich auf unser baldiges Wiedersehen. Ich bedanke mich bei allen, die mich mit ihren guten Wünschen begleiten.

Allen Teilnehmern des Osterganges wünsche ich Friede und Heil unter einer wärmenden Frühlingssonne.

 

Roger Reinhard