Spirale der Gewalt und kein Ende?

Roger aus Palästina im März 2004

 

Meine ersten Berichte über meine Eindrücke hier im Lande waren angefüllt mit schlimmen Erfahrungen. Ich habe einiges mitgeteilt von den Folgen der Trennungsmauer, von Hauszerstörungen, von den vielen Checkpoints und anderen Hindernissen für eine Entwicklung und Bewegungsfreiheit der Bevölkerung in den besetzten Gebieten Palästinas. Das sind niederdrückende Geschehnisse auch für mich. Zugleich hatte ich mir vorgenommen, auf die Hoffnung gebenden Ereignisse zu achten und davon zu berichten.

Auch in den dunkelsten Zeiten hier im Lande gibt es Menschen, die ein helles Zeichen setzen. Während sich die Spirale der Gewalt immer schneller dreht, versuchen einige ihrer Opfer einen friedlichen und versöhnlichen Neuanfang.

Ich hatte das Glück, einige Mitglieder des “Parents’Circle – Families Forum” zu treffen. Die Gruppe setzt sich aus Eltern und Familienmitgliedern zusammen, die Opfer im laufenden Konflikt zu beklagen haben. Das sind sowohl israelische wie arabische Familien, die für Versöhnung und Frieden zusammenarbeiten.

 

Da ist Rami Elhanan, ein 54jähriger Graphik-Designer, der sich selbst als Jude, Zionist und Israeli bezeichnet. Zuerst aber ist er ein Mensch, wie er schnell hinzufügt. Er kämpfte in einem Panzerregiment im Jom Kippur Krieg (1973) am Suez Kanal. Zehn Jahre später wurde seine Tochter Smadar geboren. Er hatte ein glückliches und ruhiges Familienleben bis zu jenem 4. September 1997, an dem zwei Selbstmordattentäter in der Jehuda Strasse in Jerusalem fünf Menschen mit in den Tod rissen, darunter seine 14jährige Tochter Smadar.

Für den Vater begann eine lange dunkle Nacht. Sieben Tage lang kamen ungezählte Menschen in sein Haus, um ihr Mitgefühl und ihre Trauer zu zeigen: Christen, Juden und Araber. Am achten Tag glaubte der Vater, seiner Arbeit wieder aufnehmen zu können. Aber nichts mehr war wie vorher. “Die Luftblase, in der ich all die Jahre gelebt hatte, war geplatzt.”

Wohin mit dem quälenden Schmerz über den Verlust? Sollte er Rache üben? Aber jemand anderen töten würde sein Kind nicht lebendig machen, das wußte er. Die Alternative war der Versuch, Verstehen zu lernen. Dabei kam ihm der Kontakt zu den “Bereaved Parents” (Leidtragende Familien) zu Hilfe, die ihn zu einem nächsten Treffen einluden.

Mit Widerstreben folgte er der Einladung. “Diese Menschen müssen doch verrückt sein!” In der Gruppe traf er eine arabische Mutter, die das Bild ihres getöteten Sohnes in einem Medaillon um den Hals trug. In ihrem Gesicht entdeckte Rami denselben Schmerz, der ihn seit einem Jahr quälte. ”Da wurde ich ver-rückt.”  Jetzt mußte er sich entscheiden: dem Bedürfnis nach Rache folgen, oder etwas unternehmen, um anderen diesen Schmerz zu ersparen.

“Nichts zu tun ist ein Verbrechen. Abseitsstehen kann ein Verbrechen sein. Wir sind nicht dazu verurteilt, im Kreislauf der Rache mit zu rennen. Wenn wir es schaffen, können es alle schaffen.” Jetzt kann Rami wieder morgens gerne aufstehen und in den Spiegel schauen. Er macht zugleich die Erfahrung, wie schwer es ist, jeden morgen seine Entscheidung zu erneuern.

 

Eine andere nicht weniger bewegende Geschichte erzählt Khaled Abu Awad. Als Palästinenser war er und seine Familie während der ersten Intifada (Erhebung der Bevölkerung Palästinas gegen die Besatzung 1987 ) sehr aktiv. Dafür saß der Mathematiklehrer mehrmals in israelischen Gefängnissen.. (Praktisch gibt es kaum eine Familie in Palästina, in der nicht Mitglieder festgenommen und eingesperrt worden waren. Bis heute werden tausende Männer in sogenannter „administrativer Gewahrsam“ festgehalten, ohne Prozess und mit guter Aussicht auf Verlängerung der sechs Monate “Normalzeit”)

Am 16.November 2000, zwei Monate nach dem Beginn der Al Aqsa Intifada, wurde Khaleds Bruder Joussef (31) von einem israelischen Soldaten erschossen, als er mit seinem Auto in einen Zusammenstoß zwischen Militärs und Steine werfenden Jugendlichen geraten war. Joussef hinterließ Frau und zwei Kinder.

Khaleds anderer Bruder Said, der gerade 14 Jahre alt war, kam von der Schule nach Hause, legte seinen Schulranzen ab, um wieder nach draußen zu seinen Freunden zu gehen. Dabei wurde er auf der Straße von einem Soldaten erschossen. Wie im Falle seines Bruders Joussef ist auch hier nicht zu klären, ob es ein Versehen der Soldaten war.

 

 

Khaleds Schmerz über den Verlust seiner Brüder war so groß, dass er nie mehr in seinem Leben einen Juden sehen wollte. Etwa drei Wochen später fragte eine Gruppe Israelis, ob sie ihn besuchen könnten, um über Frieden zu sprechen. Er wollte nicht. “Nein, ich glaube keinen Worten mehr!”

Dann saßen eines Tages drei israelische Frauen in seiner Wohnung als er nach Hause kam. Die traditionelle Gastfreundschaft gebot dem Araber, seine Besucher zu bewirten. Er hatte jüdische Mütter zu Gast, deren Söhne getötet worden waren. Die arabische Eltern begannen mit ihnen zu weinen. Sie sprachen mit verschiedenen Zungen, aber mit dem gleichen Herzen zueinander.

Wenig später lud Khaled 50 israelische und 50 arabische Familien in sein Haus, die alle Opfer zu betrauern hatten. Seitdem arbeitet er mit der Gruppe der The Parents’ Circle zusammen.

 

Rami und Khaled bezeichnen den “Parents Circle” als die einzige Organisation in der Welt, die nicht um Mitglieder wirbt! Beide gehen nun oft in die Schulen, um den 17 –und 18jaehrigen zu konfrontieren mit dem, was alles möglich ist. Sie treffen hier auf die künftigen Soldaten. Sie sind nicht gerade willkommen, jedoch wird heftig diskutiert. Sie organisieren Sommercamps für Kinder und deren Familien und Blutspendeaktionen. Palästinenser spenden Blut für israelische Krankenhäuser, Israelis für palästinensische Hospitäler. “Ist es nicht dasselbe Blut?”

Die Gruppe ermöglicht Telefonkontakte zwischen Menschen, die sich nie begegnet sind. Über 300 000 Anrufe wurden getätigt. Sie gehen mit auf Demostrationen für die Beendigung der Besatzung Palästinas und stellen sich den radikalen Siedlern entgegen. Auf ihren Transparenten steht zu lesen: “Wir mussten den höchsten Preis für eure Träume bezahlen, den Tod unserer Kinder!”

Parents Circle ist eine kleine Organisation von etwa 150 Palästinensern und 250 Israelis. Sie hätten den meisten Grund zum Hassen und zur Bitterkeit. Sie aber halten in dieser hoffnungslos erscheinenden Situation die Aussicht auf Versöhnung, Verständigung und Frieden hoch.

Am Ende seiner Erzählung legt Khaled seinen Arm um Rami: “Jetzt ist er mein Bruder.”