Roger Reinhard

Ausgeschlossen und zugleich eingeschlossen

Was erwartet die Menschen in Sheik Sa’ad?

 

Der Anstieg ist sehr steil nach Sheik Sa’ad. Es ist der einzige Verbindungsweg zur Ortschaft, fuer normal ausgeruestete Autos nicht befahrbar. Bei Regen von keinem Fahrzeug zu bewaeltigen.

Ich begleite an diesem sonnigen Morgen Fatima auf ihrem Weg zur Arbeit. Sie wohnt in Ost-Sawahreh und ist Lehrerin an der einzigen Schule im Ortsteil Sheik Sa’ad, einer Maedchenschule. Und wir benutzen den zur Zeit einzigen offenen Zugang zum Dorf.

Die kurze Zeremonie vor Unterrichtsbeginn auf dem Schulhof ist gepraegt vom Geiste moslemischer Froemmigkeit und palaestinensischem Nationalgefuehl. Die Kinder sind heiter und neugierig wie alle Kinder in der Welt. Sie werden betreut von sehr freundlichen und engagierten Lehrerinnen. Ihnen ist nicht anzumerken, dass die meisten von ihnen noch nie ihr Dorf verlassen haben.

Denn Sheik Sa’ad ist im Laufe der israelischen Besatzung mehr und mehr von der Aussenwelt abgeschnitten worden. Sheik Sa’ad ist Teil einer zusammenhaengenden groesseren Siedlung ehemaliger Beduinenfamilien. Ueber verschiedenen Huegel verstreut bildet sie eine suedoestliche Vorstadt Jerusalems.

 

Abhaengig vom Oberzentrum Jerusalem

Mit der Annexion grosser Teile der West Bank (Palaestina jenseits des Jordan, einst zu Jordanien gehoeriges Land) wurden neue Grenzen in der Stadt gezogen. Die Bewohner erhielten unterschiedliche Zugehoerigkeiten. Die Menschen in West-Sawahreh, in Jabal Mukabber, wurden Jerusalem einverleibt und “permanent residents” of Israel. Ost-Sawahreh und Sheik Sa’ad verblieben in der West Bank. Die weitreichenden Folgen dieser getrennten Identitaeten wurden umso bedeutender, je mehr Israel die besetzten Gebiete abriegelte.

Abgesehen von ihren sehr engen Familienbindungen war die Bevoelkerung immer sehr angewiesen auf den Zugang nach Jerusalem und seiner Infrastruktur. Das betrifft die Arbeit als Einnahmequelle, die weiterfuehrenden Schulen und deren Lehrer, die medizinische Versorgung und die Deckung des Lebensbedarfes.

 

Bewachter Grenzzaun, Betonmauern und verbotene Familien

Die Abriegelung durch Strassenblockaden, bewehrten Zaun und hohen Betonmauern durch Israel schafft absurde Situationen. Nur wenige Einwohner besitzen den  richtigen Ausweis, um Jerusalem betreten zu koennen. Sie beduerfen einer besonderen Genehmigung, die es nur bei der Zivilverwaltung (der Besatzung) in der Naehe der israelischen Siedlung Ma’ale Adumim gibt. Diese wiederum ist nur ueber den “illegalen” Weg ueber Jerusalem erreichbar.

Mein Begleiter auf dem Dorfrundgang an diesem Morgen versichert mir zugleich, dass seit der zweiten Intifada (seit Herbst 2000) nur wenige die gewuenschte Erlaubnis erhalten, auch nicht in medizinischen Notfaellen. Ganz zu schweigen von der Widerrufung der Erlaubnis und der totalen Schliessung aller Zugaenge nach einem Anschlag auf israelische Soldaten oder Zivilisten, waehrend juedischer Feiertage oder an Wahltagen.

Besonders hart betrifft es Ehepaare mit verschiedenen Identitaeten und deren Kinder. Mousa und Ikhlas haben 1995 geheiratet und haben einen Sohn Ali. Ikhlas kommt aus Jabal Mukabber (West-Sawahreh) und ist somit Jerusalemer Buergerin mit einem blauen Ausweis. Der Ausweis von Mousa ist wie der aller West Banker orange, da er aus Ost-Sawahreh stammt. Mousa kann nur verbotenerweise, das heisst heimlich seine Familie und seine Freunde im anderen Ortsteil besuchen und sein Land bestellen. Selbst bei der Teilnahme an einer Beerdigung auf dem dortigen Friedhof riskiert er festgenommen und ins Gefaengnis gebracht zu werden. Da Mousa gerne mit seiner Familie in Jabal Mukabber leben wuerde, hat er im Jahre nach seiner Hochzeit einen Antrag auf Familienzusammenfuehrung gestellt, der bisher ohne Antwort seitens der Behoerde geblieben ist.

Und sein Sohn Ali? Da er bisher keine “Angehoerigkeit” bekommen hat, wird er kein Recht auf Schulbesuch und andere saziale Rechte haben.

Mousa ist ohne Job zu Hause mit seinem Sohn Ali. Er wird zunehmend depressiver und hat wenig Hoffnung fuer die Zukunft seiner Familie.

Als deutscher Beobachter sieht man sich doch sehr erinnert an die absurden und brutalen Folgen einer Berliner Mauer.

“Uns ist nicht einmal erlaubt zu sterben”

Solange den Menschen in Sheik Sa’ad der Zugang zum Zentrum Jerusalem verweigert ist, sind sie angewiesen, in die nahegelegenen Staedte wie Abu Dis (mit der dortigen AlQuds Universitaet), Bethlehem, Ramallah oder Jericho. Bei der wunderbaren Aussicht vom oberen Teil der Ortschaft kann ich mich von der Naehe der Staedte ueberzeugen. Doch alle Wege fuehren ueber das unzugaengliche Jerusalem. Das ist endgueltig seit September 2002 so, als die israelische Armee den einzigen befahrbaren Zugang gaenzlich blockierte. Mit einem Fahrzeug ist Sheik Sa’ad weder zu erreichen noch zu verlassen. Es bleibt der Fussweg ueber den Erd-und Steinhaufen, um dahinter sich von einem Taxi oder einem befreundeten Autofahrer aufnehmen zu lassen. Dabei ist mit unvorhersehbaren Kontrollen von seiten der israelischen Grenzpolizei zu rechnen.

Die Fahrt in die Stadt, um zu arbeiten (meist illegal) fuer vielleicht 60 NISchekel am Tag, kostet 20 Schekel. Die Arbeitslosigkeit im Ort betraegt 80%. So gibt es wenig Einkommen, und die Leute koennen nur das Allernoetigste einkaufen. Das bedeutet zugleich den Ruin der ansaessigen Gechaefte. Deren Belieferung erfolgt uebrigens auch nur ueber die Strassenblockade. Das heisst, die Waren muessen von Hand ueber den Erdhaufen umgeladen werden. Die Szene an diesem einzigen Ortseingang und Umschlagplatz ist auch heute gekennzeichnet von wartenden Menschen und Autos und von der gelegentlich auftauchenden Polizei.

Wer unerlaubt das Dorf verlaesst und von der Polizei oder dem Militaer gefasst wird, muss mit hohen Geldstrafen und schliesslich im Wiederholungsfalle mit Gefaengnis rechnen. Nur wenige Maenner von Sawahreh und Sheik Sa’ad waren noch nicht in israelischen Gefaengnissen…

Mahmoud  meinte unterwegs: “Den Leuten ist nicht einmal erlaubt zu sterben. Ihre letzte Ruhestaette liegt jenseits der Absperrung.”

Umziehen oder als Gefangener im eigenen Haus leben

Waehrend meines Aufenthaltes im Dorf faellt mir auf, wieviele Ziegen- und Schafherden an den kargen Gruenflaechender Berghaenge unterwegs sind. Ein friedliche Idylle, die wohl einen bitteren Beigeschmack hat fuer die Einheimischen. Mir scheint, dass viele Familien in der gegenwaertigen Not auf die Lebensweise ihrer Vorfahren zurueckkommen und wieder Kleinvieh hueten.

Den Schlusspunkt unter die Einschliessung von Sheik Sa’ad bildet die fortschreitende Errichtung des breiten Trennungsstreifens und der hohen Mauer zwischen den Ortsteilen. Dieses Monsters aus Beton und Stacheldraht hat in diesem Abschnitt von Al Ezzarjia bis Beit Sahour (Bethlehem) auch viele Haeuser und Olivenhaine vor den Augen ihrer Eigentuemer und auslaendischer Beobachter zerstoert.

Mein Begleiter Mahmoud (Name geaendert) zeigt auf sein grosses von ihm verlassenes Haus am Ortsrand. Er will mich zum ueblichen Willkommenstee einladen und noch mehr ueber die Geschichte seines Heimatdorfes erzaehlen. Er hat den besseren, den blauen Ausweis, und hat jetzt eine Wohnung nur wenige hundert Meter weiter auf der anderen Seite der Trennung gemietet. So ist er seiner Grossfamilie und einer moeglichen Arbeit naeher. “Hier sind wir eingesperrt in einem Kaefig wieHuehner. Und jederzeit koennen sie einen von uns herausgreifen,” meinte er zwischendurch.

Auf meinem Rueckweg geniesse ich nochmals die wunderschoene Aussicht zum Toten Meer im Osten und nach Bethlehem im Westen. Diese Aussicht haben die Kinder von Sheik Sa’ad zwar auch. Doch wann werden sie wenigstens soweit reisen koennen wie ihr Blick reicht?

Fatima stellt mir ihre froehliche Kinderschar vor, um mich dann zu fragen, wie ich mir deren Zukunft vorstellen will. “Schau sie dir an. Sind sie nicht grossartig? Werden das eines Tages Terroristen oder Friedensstifter sein?”

 

 

Sawahreh, am 21.Maerz 2004

Roger Reinhard

 

Pressevorbehalt:

Ich arbeite zur Zeit als Freiwilliger im Rahmen eines Begleitprogrammes in Israel und Palaestina, das die Oekumenische Weltkirche (Worl Council of Churches) mit Sitz in Genf initiiert hat. Die Meinungen des Berichtes entsprechen nicht automatisch denen des WCC. Fuer eine weitergehende Nutzung des Berichtes ist Ruecksprache mit der Programmkoordination notwendig. www.eappi.org 

Fuer Deutschland: Pax Christi, Bad Vilbel