Worte  zum Holocaust-Gedenktag 27.1.2002

 von Jürgen Hilgers-Silberberg    Und zwei Texte von Erich Fried

 

 

57 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz - bei einer kleinen bescheidenen Gedenktafel - versuchen wir, der Erinnerung an Menschen, die ausgelöscht wurden, einen sichtbaren Ort zu geben.

Denn, so sagte Ellie Wiesel, ein Überlebender, „Wer zum Vergessen beiträgt, vollendet das Werk der Mörder“. Deshalb sei es „notwendig, Zeugnis abzulegen, um sich nicht im Lager des Feindes zu finden.“

 Hitlers willige Vollstrecker erfassten auch in Nottuln die wenigen jüdischen Bürger, die hier, jedem bekannt und vertraut, ihren Platz im Alltag hatten. Diese nachbarliche Nähe in einer kleinen, überschaubaren Gemeinde gibt den Ereignissen einen zusätzlichen grausamen Beigeschmack: Hier ging es nicht um die Deportation in der Anonymität einer Großstadt, hier kannte jeder jeden, hier war das Nicht- sehen- wollen, das Nicht-wissen-wollen, unmöglich.

Nichts blieb von  diesen Menschen - oder doch?

Die Namen der in Nottuln deportierten Menschen wurden auf dieser Tafel weiter gereicht. 13 Namen von Menschen, die in Nottuln, wie viele andere auch in dieser Zeit, Gewalt, Unrecht, menschschliche Kälte, Deportation und Tod erfahren haben.

Sie erlitten das von Menschen, die ihre Nachbarn waren, die aus ihrem unmittelbaren Lebensumfeld kamen und die zumindest zu den begangenen Verbrechen geschwiegen oder aber weggeguckt haben.

Nichts blieb von  diesen Menschen - oder doch?

Wenigstens eins ist geblieben: Die Erinnerung und das Wachhalten der Erinnerung

Lassen sie mich einen Namen von den Menschen, an die wir uns hier erinnern können, stellvertretend herausnehmen:

Ursula Gerson, geboren 1936 und als letztes Opfer auf dieser Liste aufgeführt, wurde nicht einmal 10 Jahre alt. Sie gehörte wie Anne Frank zu den 2 Millionen Kindern, die dem Holocaust zum Opfer fielen.  Es kann trotz solcher Zahlen nicht nur um die Erinnerung an Fakten gehen. Es muss auch um die Erinnerung an Wertvorstellungen und Verhaltensweisen gehen, die ein gnadenloses System möglich machten und kennzeichneten. Und es muss sich auch die Frage nach den Wertvorstellungen und Verhaltensweisen von uns Heutigen anschließen.

Zahllose Kinder finden auch heute noch keine sichere Heimat in unserer Welt. Zehntausende sterben jährlich an Unterernährung, durch Terror, Krieg und Kriegsfolgen.

Auch hier zwei Beispiele stellvertretend für viele Krisenherde in der Welt. Unter grausamen Kriegen leidende Kinder in Tschetschenien und Afghanistan.

Wer solche Kriege unterstützt, der trägt auch Verantwortung. Verantwortung für Flächenbombardements, für Splitterbomben, die das Land Afghanistan weiter verminen, für Benzinbomben, für die Bombardierung von Städten und DRK-Lagern, der trägt auch Verantwortung für die Toten – die Schätzung geht gegen 3000 - der trägt auch die Verantwortung für eine weitere Entwicklung hin zu einer „Enttabuisierung des Militärischen“.

Das, u. a., meinen, auf uns zielend, die letzten Zeilen auf der Gedenktafel, die in Havixbeck für die Opfer der nationalsozialistischen Terrorherrschft angebracht wurde.  Dort steht:

Jetzt sind wir hier. Was jetzt geschieht, geschieht durch uns. Wir mögen uns vor der Vergangenheit und ebenso vor der Gegenwart gelegentlich mutlos und schwach fühlen. Bündeln wir die Kraft der Schwachen, so schaffen wir gemeinsam  der Erinnerung Raum und der Gerechtigkeit Zukunft! Nur so können wir Vergessen verhindern, nur so kann jeder von uns mit bescheidenen Kräften zu einer Wiederholung „Nein“ sagen.

In diesem Sinne möchte ich noch einmal das Anfangszitat von Ellie Wiesel wiederholen:

  „Wer zum Vergessen beiträgt, vollendet das Werk der Mörder. Deshalb ist es notwendig, Zeugnis abzulegen, um sich nicht im Lager des Feindes zu finden.“

Und ein zweites Zitat von Marcel Proust, das wir hier auf der Nottulner Gedenktafel finden möchte ich noch hinzufügen:

"Gemeinsame Erinnerungen sind manchmal die besten Friedensstifter."

 

 

Zwei Texte von Erich Fried

Dann wieder 

Was keiner
geglaubt haben wird

was keiner
gewusst haben konnte

 was keiner
geahnt haben durfte

das wird dann wieder
das gewesen sein

 was keiner
gewollt haben wollte

  

Der Überlebende

                                nach Auschwitz

 

Wünscht mir nicht Glück

zu diesem Glück

dass ich lebe

 

Was ist Leben

nach soviel Tod?

Warum trägt es

die Schuld der Unschuld?

die Gegenschuld

die wiegt

so schwer

wie die Schuld der Töter

wie ihre Blutschuld

die entschuldigte

abgewälzte

 

Wie oft

muss ich sterben

dafür

dass ich dort

nicht gestorben bin?