Kreisheimatpfleger Hans-Peter Boer (Nottuln)

anläßlich des Gedenkens an die Opfer des "Verwaltungsmassenmordes" 1933-1945 /

 

 

Sehr geehrter Herr Bürgermeister,

sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Anwesende!

 

Nottuln tut sich in vielem schwer, auch mit seinen Denkmälern.

 

Als ich etwa zehn Jahre alt und historisch schon recht interessiert war, wurde ich im Elternhaus, damals wie heute ein Cafe', Zeuge verschiedener Diskussionen um die Gestaltung des neuen Kriegerehrenmales. Das alte an der Einmündung der Stiftsstraße in den Potthoff hatte der Erweiterung der Bundesstraße weichen müssen, als Ersatz wurde die Ehrenkapelle am Kirchturm in Nottuln neu gestaltet. Bei uns trafen sich nun vor den verschiedensten Sitzungen Kommunalpolitiker aller Richtungen und diskutierten. Und sie hatten auch einen Außenseiter: Den inzwischen verstorbenen Druckereibesitzer Gottfried Niemann, der doch tatsächlich forderte, die ermordeten Nottulner Juden der Familie Lippers, seine früheren Nachbarn, müßten gleichrangig einen Gedenkplatz in der Kapelle finden. Merkwürdig im wahrsten Sinne des Wortes schwebt mir bis heute eine gegnerische Argumentation vor: Diese Toten seine doch keine richtigen Kriegstoten.

 

Waren sie nun tot durch Gewalt - oder nicht?

 

Natürlich fand sich für die 13 aus Nottuln Ermordeten kein Plätzchen des Gedenkens. Es lebten ja noch Täter, denen man nicht auf den Schlips treten wollte.

 

Zeitsprung, fast 30 Jahre weiter. Ein Denkmal für alle Opfer der Gewalt, wieder entscheidend initiiert von der Familie Niemann und ausdrücklich auch dem Gedächtnis der Nottulner Juden gewidmet, wird am Kirchturm in Nottuln durch den Bildhauer Rudolf Breilmann gestaltet. Wer wie ich damals die internen Diskussionen verfolgen durfte - oder mußte, drohte zu verzweifeln an der greifbare Furcht eines bischöflichen Kunstbeauftragten, der Bildhauer könne die Wahrheit zu eindringlich, zu wahr gestalten. Breilmanns mahnender Erstentwurf - für mich bis heute ein Meisterwerk -  konnte aufgrund amtlichen Vetos nicht verwirklicht werden. Er erschien zu hart. Er wurde durch einen Kompromiß verdrängt.

 

Ist denn nicht Wirklichkeit des Mordens härter als jedes Bild?

 

Aber immerhin begehen dann mehr als 500 Menschen die 50. Wiederkehr jenes hell-lichten Tages vom 10. November 1938, an dem reputierliche Nottulner Bürger der Familie Lippers, ununterbrochen über Generationen seit 1676 in Nottuln wohnhaft, Haus und Heimat zerschlagen. Der Ort des Gedenkens ist der Weg vom Kirchplatz zum alten Judenfriedhof am Uphovener Weg. Jeder von uns, der diesen Abend erlebt hat, sieht sich heute ergriffen, ergriffen durch die zu Herzen gehende Rede unserer verstorbenen Mitbürgerin Hildegard Ballhorn, die als Verfolgte selbst Emigration, Gestapo-Haft und Internierung erlebt hat. Ihre Kernbotschaft bleibt gültig: An den Katastrophen der Menschheit sind nicht nur die Täter schuld, sondern alle die, die jene Täter und ihr Wirken zulassen. Die "Trägheit der Guten" - so Hildegard Ballhorn - macht das Böse möglich.

 

Dann das Jahr 1999. In der Frage eines Denkmals ist Siegfried Laack immer mahnend engagiert geblieben. Es kommt zu einer Vereinbarung der Ratsfraktionen und zu einer schönen wie schlichten Lösung, die unser Gemeindearchivar Christian Wermert entwickelt hat: Dem Gedenken an die 13 ermordeten Juden aus Nottuln wird die Erinnerung an die Opfer der Lager, des Krieges und der Gefangenschaft, das Los der Geschundenen und Vergewaltigten an die Seite gestellt: "Gemeinsame Erinnerungen sind manchmal die besten Friedensstifter." So lautet als Losung das Zitat von Marcel Proust. Am 8. Dezember 1999 übergibt Bürgermeister Fliß das schlichte Mal der Öffentlichkeit.

 

Diese Tafel darf nicht hängen! Obwohl sie auch hunderte aus Nottuln stammende Kriegsopfer aufführt, an Männer wie Bernhard Nährding oder Pater Dabeck erinnert, uns das Schicksal zahlreicher hier vor Ort vergewaltigter Mädchen und Frauen vor Augen stellt, darf diese Tafel nicht hängen. Sie muß abgerissen, verbogen, weggeschmissen werden.

 

Wenn es denn so einfach wäre mit unserer Geschichte!

Wir haben sie doch geerbt und können uns gegen sie nicht einmal wehren. Nicht gegen einen Johann Sebastian Bach oder gegen einen Herrn Goethe, nicht gegen einen Goebbels oder einen Heydrich. Sie sind Bestandteil der Geschichte unseres Volkes.

 

Sie insgesamt anzunehmen und - das muß der Kern des weiteren Handelns sein - für die Zukunft die Verantwortung zu übernehmen - ist Aufgabe von Politik auf allen Ebenen. Das fängt hier im Dorf an und führt weit in die europäische und außereuropäische Politik.

 

Wohl keiner von uns hier ist unmittelbar verantwortlich oder war Zuträger zum "Verwaltungsmassenmord", wie Hannah Ahrend treffend die Auslöschung der europäischen Judenheit genannt hat. Aber jeder von uns hat die verdammte Pflicht und Schuldigkeit dazu beizutragen, dass ein ähnliches Geschehen sich nicht wiederholt.

Und das gilt nicht nur für Deutschland oder Europa.

 

Meinem Vater bin ich bis heute dankbar, dass er seine drei Söhne 1964/65 mit dem gerade gegründeten deutsch-französischen Jugendwerk auf Kriegsgräbereinsätze nach Frankreich schickte. Je zwei Wochen haben wir mit anderen deutschen Schülern und Lehrlingen damals einen Friedhof mit 5000 sinnlos umgekommenen jungen Männern aus Deutschland per Hand umgegraben und gepflegt. Durch eine niedrige Hecke getrennt lagen 5000 tote Franzosen. Die Wochen im Tal der Aisne haben mich geprägt bis heute. Es gibt keine Alternative zu einem vereinten und friedlichen Europa. Das gilt inzwischen sogar für eine neue Weltordnung. Die aber wird viel schwerer zu erreichen sein.

 

Politik jedoch muß, wie Carlo Schmid, der große Humanist, SPD-Politiker und Bundestagspräsident einmal sagte, ganz unten bei den Menschen anfangen. Seien wir uns nicht zu schade, in die Diskussion mit allen vor Ort einzutreten. Pflegen wir unsere Kontakte nach St. Amand und Chodziedz, tragen wir alle zu einem friedlichen Miteinander bei. Wehren wir uns aber auch gegen den Schlußstrich, den so manche unter unsere Geschichte ziehen wollen. Wir in Deutschland haben es erlebt, was geschehen kann, wenn "Politik ohne Moral" gemacht wird. Erfreuen wir uns unserer Freiheit - und bleiben wir uns stets und gerade durch die Erinnerung - ihrer Gefährdung immer bewußt!

Ich danke ihnen.