Mein Erlebnis in Hiroshima
Shuntaro Hida
Dr. med. Shuntaro Hida, 1917 in Hiroshima
geboren, ist in mehrfacher Hinsicht ein
außergewöhnlicher "hibakusha". Er gehört zu
den wenigen Ärzten, die den
Atombombenabwurf überlebt haben. Mit großem
Einsatz ist er seit 1945 in
(inter)nationalen Gremien für die Belange
der "hibakusha" und für seine Vision einer
atomwaffenfreien Welt tätig. Guido
Grünewald hat ihn den "Botschafter" der
Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki
genannt. Ferner hat Dr. Hida seine auch auf
deutsch erschienenen Memoiren verfaßt (Der
Tag, an dem Hiroshima verschwand.
Erinnerungen eines japanischen
Militärarztes, Donat Verlag, Bremen 1989).
Dr. Hidas Referat, in welchem er seine
Erlebnisse schildert, ist hier in Teilen zu
lesen. Das Referat bildete den Auftakt
seiner neunten Vortragsreise durch
Deutschland im Jahre 1995.
Vor 50 Jahren war ich ein junger Armeearzt im
Offiziersrang und arbeitete im Militärkrankenhaus
in Hiroshima. Am Vorabend des 6. August, gegen
Mitternacht, kam ein Notruf aus der nahe
gelegenen Gemeinde Hesaka, drei Meilen vom
Krankenhaus entfernt, da Patienten in diesem Dorf
dringend meiner Hilfe bedurften, und ich verließ
das Hospital. Ohne diesen Notruf und meine
Übernachtung außerhalb Hiroshimas könnte ich
heute nicht unter Ihnen sein. Am nächsten Morgen
um Viertel nach acht explodierte plötzlich die
Bombe. Mit einem Schlag leuchteten millionenfache
Blitze auf und blendeten mich. Es folgte eine
ungeheure Hitze, die meine unbedeckte Haut
verbrannte.
Dann, einige Sekunden später, kam der ungeheure
Druck, der einem Orkan gleich den Hügel
heraufraste und die Häuser in diesem Dorf
erfaßte. Er riß das Dach des Hauses, in dem ich
mich befand, ab und schleuderte mich etwa zehn
Meter weit. Als ich aus den Trümmern des Hauses
hervorkroch, sah ich auf den riesigen Atompilz,
der höher und höher wuchs, in fünf verschiedenen
Farben leuchtete und sich über ganz Hiroshima
ausbreitete.
Da ich mich als Militärarzt zum Helfen
verpflichtet fühlte, nahm ich sofort mein Fahrrad
und fuhr in Richtung Hiroshima. Als ich etwa die
Hälfte des Weges hinter mir hatte, sah ich den
ersten Menschen, der aus dem Flammenmeer
entflohen war. Und wie er aussah! Er war kein
Mensch mehr. Vom Leib, von allen Teilen des
Körpers, hingen zerfetzte Lappen herunter. Von
den Spitzen der Finger, die er sich vor die Brust
hielt, fiehlen schwarze Tropfen herab. Und das
Haupt, der ungeheuer große Kopf, an dem kein
einziges Haar zu sehen war, geschwollene Augen,
die beiden Lippen, die bis zur Hälfte des
Gesichtes aufgedunsen waren! Erschrocken trat ich
einige Schritte zurück. Die hängenden Lappen
waren nichts anderes als abgeschabte Haut des
lebenden Menschen. Die schwarzen Tropfen waren
sein Blut. Ob Mann, ob Frau? Ob Soldat, ob
Zivilist? An nichts konnte man das ablesen. Von
seiner Sehkraft war vielleicht noch etwas übrig.
Er trottete mit vorgestreckten Händen einige
Schritte auf mich zu und fiel auf den Bauch. Ich
lief hin und wollte den Puls fühlen. Aber an
diesem Fleischklumpen war nirgendwo eine Stelle
mit trockener Haut. Bestürzt und hilflos stand
ich da und schon überfielen den liegenden
Menschen starke Krämpfe, aber bald gingen diese
auch vorbei.
Ich eilte weiter zur Stadt, als ich an das
Flußufer gelangte, das die Stadt nach Norden hin
umgrenzte. Das Flußbett war voll von
ausgebrannten Fleischklumpen. Drüben auf dem
anderen Ufer loderten die Flammen zum Himmel und,
diese umkreisend, stießen Rauchpfeiler wie
lebende Wesen hoch. Vom Feuer gejagt, sprangen
die Menschen ins Wasser. Im Wasser waren auch
viele Kinder. Wie sehr auch meine Gedanken zu
meinem Krankenhaus eilten, es war gar nicht
möglich, durch die Feuerwand in die Stadt zu
kommen. Eine Weile dachte ich hin und her, dann
aber entschloß ich mich, zu dem Dorf
zurückzukehren, das ich soeben verlassen hatte,
um dort eine Nothilfeklinik für die Verwundeten
zu errichten.
Eine unerklärliche Krankheit
Es war am vierten und fünften Tag nach dem
Atombombenabwurf, als unter den Patienten
merkwürdige Krankheiten auftauchten. Bisher war
das im Dorf eingerichtete provisorische und immer
überfüllte Lazarett meist mit Brandwunden und
äußeren Verletzungen konfrontiert gewesen. Nun
aber kamen Patienten mit Symptomen wie hohem
Fieber, Blutungen der Nasen und
Augenschleimhäute, Purpura und Ausfall des
Kopfhaars. Sie starben entweder bereits nach
einigen Stunden oder spätestens nach einigen
Tagen. Im Nachhinein habe ich erfahren, daß es
sich um Strahlungsschäden handelte, die man als
akute Strahlenkrankheit bezeichnet. Für mich, der
damals nichts dergleichen gelehrt bekommen und
der keinerlei Erfahrungen damit hatte, war es
eine unerklärliche Krankheit.
Ein Beispiel: Viele Tage bevor die Atombombe
detonierte, heiratete ein Freund von mir in
Hiroshima. Am 6. August wurden beide schwer
verbrannt, der eine auf dem Weg zum Hauptquartier
der Division und die andere in ihrer Küche.
Glücklicherweise überlebten sie und entkamen mit
knapper Not nach Hesaka, in mein Dorf. Keiner von
beiden wußte vom Schicksal des anderen, obwohl
beide auf dem gleichen Boden dieser Grundschule
lagen. Die Opfer um sie herum starben, und jene,
die zwischen den beiden jungen Menschen gelegen
hatten, raffte der Tod hinweg. Schließlich lagen
sie nebeneinander, ohne daß sie von einander
etwas ahnten. Ihre Gesichter waren allzu
verändert, sie waren füchterlich verbrannt. Aber
schließlich erkannten sie sich am Klang ihrer
Stimme. Was für eine glückliche Fügung!
Diese herzergreifende Episode sprach sich unter
den Patienten schnell herum. Es schien den beiden
nach und nach besser zu gehen, und nach zwei
Wochen sollten sie in ein Krankenhaus in einem
anderen Ort verlegt werden. Das glückliche Paar
verabschiedete sich von den anderen Patienten und
kam auch zu mir, um mir für die Behandlung zu
danken. Doch kaum waren die Worte verklungen, da
sprudelte plötzlich eine große Menge Blut aus dem
Mund des Mannes. Und in beiden Händen, die er
schmerzerfüllt an den Kopf legte, hielt er
plötzlich ein Büschel von Haaren, als wären sie
abrasiert. Er brach zusammen und bekam hohes
Fieber. Innerhalb von 24 Stunden war er tot.
Seine Frau war außer sich; sie schrie und hielt
den Leichnam ihres Mannes. Doch auch ihre Tränen
verwandelten sich in Blut, ihr Haar hatte das
gleiche Schicksal und wenig später folgte sie
ihrem Mann in den Tod.
Weitere schreckliche Ereignisse stellten sich
ein. Auch unter den Leuten, die nach dem
Bombenabwurf in die Stadt gegangen waren, um dort
zu helfen, und unter den Leuten, die aus anderen
Orten gekommen waren, um in der Stadt nach
Verwandten und Bekannten zu suchen, tauchten
Menschen mit merkwürdigen Krankenheitsbildern
auf. Viele von ihnen starben.
Zu diesem Zeitpunkt konnte ich nicht wissen, daß
diese Menschen in der Luft, auf Lebensmitteln und
im Wasser befindliche Strahlungspartikel
aufgenommen hatten, die wiederum schreckliche
Wirkungen zeitigten: Die über längere Zeit
wirkende niedrigdosierte radioaktive Strahlung
rief plötzlich eine verstärkte Tumorbildung
hervor oder die körperlichen Abwehrfunktionen
wurden zerstört.
Ein weiteres Beispiel: Ein junger Stadtbeamter
war im Keller des Rathauses unweit vom
Explosionszentrum. Ihm wurden bei der Detonation
die Beine zugeschüttet. Mit Hilfe eines Kollegen
konnte er glücklich entkommen. Noch am selben Tag
kam er im sechs Kilometer entfernt liegenden
Vorort von Hiroshima, wo ich war, an.
Seine Frau, die kurz davor ein Kind gebar, war am
6. August bei ihren Eltern in der etwa 200 km
entfernten Stadt Matsue. Sie ging, nachdem Sie
das Baby den Eltern anvertraut hatte, in die
zerstörte Stadt, um ihren Mann zu suchen. Nachdem
sie 8 Tage lang durch die Ruinen gegangen war,
konnte sie ihn endlich finden. Obwohl ihm ein
Bein gebrochen war, war er noch verglichen mit
anderen, die dort im Ort zu Hunderten
untergebracht waren und von Minute zu Minute
starben, in einem besseren Zustand. Angesichts
dieses höllischen Bildes setzte die Frau ihre
Kräfte gänzlich dafür ein, die Schwerverwundeten
zu betreuen. Einige Tage arbeitete sie ganz
selbstlos daran. Und es war entsetzlich für mich
mit anzusehen, wie diese Frau nach wenigen Tagen
erkrankte. Sie bekam plötzlich hohes Fieber und
ihr blutete die Nase, es traten Blutflecken auf
der Haut an allen Gliedern auf, und am Ende fiel
ihr das ganze Kopfhaar aus. 14 Tage hat sie
gelitten und mußte im äußersten Elend sterben.
Die Symptome, die bei ihr auftraten, waren
dieselben wie bei den Schwerverwundeten.
Das wirkliche Ausmaß der Opfer, der Schäden, des
Leidens der vom Atombombenabwurf betroffenen
Menschen, insbesondere die von der radioaktiven
Strahlung hervorgerufenen Leiden, sind den
Menschen in aller Welt bisher nicht korrekt
mitgeteilt worden. Zum einen haben die Regierung
der USA und die der US-Atompolitik
gefolgschaftleistende japanische Regierung das
wirkliche Ausmaß des Leidens und die
Unmenschlichkeit der Strahlungskrankheit
konsequent zu vertuschen und zu verstecken
versucht. Zum anderen war die medizinische
Forschung über die Wirkung radioaktiver Strahlung
auf den menschlichen Organismus noch nicht
ausreichend fortgeschritten.
Aus "Wissenschaft und Frieden Spezial: Hiroshima
und Nagasaki. Geschichte und Gegenwärtigkeit",
12. Jahrgang, 2/95, S. 70-72.