UNVORSTELLBAR

 

Da treffen sich zufällig im Urlaub in Frankreich zwei Veteranen des 2. Weltkrieges: ein ehemaliger Offizier der französischen Armee und ein ehemaliger Soldat der Wehrmacht. Sie begegnen sich freundlich und unterhalten sich angeregt. Vor 45 Jahren haben sie aufeinander geschossen. Doch dann passiert es! Der ältere Mann aus Deutschland erwähnt, dass er im Krieg desertierte. Der Franzose wendet sich verachtend ab: "Mit einem Vaterlandsverräter will ich nichts zu tun haben..." 

Unvorstellbar?

Es ist so! Den Deserteur gab es in allen Kriegen, zu allen Zeiten, in allen Kulturen. Immer hing an ihm der Ruch des Feiglings, des Verräters, des Kriminellen - ganz unabhängig davon, warum er eingezogen wurde, wogegen er zu marschieren hatte, wofür er töten sollte. Die Strafen waren hart: eine Kugel in den Rücken, der Strick, das Fallbeil. 

Im 2. Weltkrieg desertierten 100 000 deutsche Soldaten. Ihre Motive waren unterschiedlich. Gemeinsam war ihnen allen eins: Sie spielten nicht mehr mit in der Nazi-Kriegsmaschinerie, die Europa und andere Teile der Welt mit Krieg und Terror überzog.

Verständlich!

Nachvollziehbar!

Vorbildhaft!

Und doch: In der Geschichtsschreibung der Nachkriegszeit kommen diese Deserteure nicht vor. Das deutsche Bewusstsein hat sie ausgeblendet. Bei Ehrungen der Opfer des Nazi-Regimes und des 2. Weltkrieges bleiben sie ungenannt. Erst in der letzten Zeit rücken diese Männer in die öffentliche Diskussion. Gerade der Streit, für diese ein Denkmal aufzustellen, hat in vielen Städten dazu beigetragen.

Diese Ausstellung soll einen weiteren Beitrag leisten, soll helfen, die Deserteure der vergangenen Kriege zu enttabuisieren und auch zu rehabilitieren. 

Und Desertion heute?

 Wie verhalten wir uns zu den Deserteuren unserer Zeit? Gerade die Initiativen, ein Denkmal für den unbekannten Deserteur zu schaffen, konfrontieren uns mit einer Problematik, die an Brisanz kaum zu überbieten ist. Sind alle Deserteure ehrenswert - auch mögliche der Bundeswehr?

Große Unsicherheit macht sich breit. Ein Konsens ist selbst in Friedensgruppen kaum herstellbar. Dieser Streit geht an die Substanz. Pointiert geht es dabei um die Frage:

Hat der Staat das Recht, in einer so existentiellen und höchst moralisch-ethischen Frage, wo es um Leben und Tod geht, um töten und getötet werden, seine Bürger zur Teilnahme an Krieg und Kriegsvorbereitung zwangszuverpflichten? Die Wehrpflicht steht hier zur Disposition, aber auch - weitergedacht - das Monopol der Staates, in jeder ihm notwendig erscheinenden Frage den Bürgern bei Androhung von schweren Strafen Verpflichtungen auferlegen zu können. 

Borcherts "Sag Nein" und auch der Aufkleber-Spruch der Friedensbewegung "Stell' Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin!" erhalten eine neue Dimension.

 Antworten will diese Ausstellung auf diese Fragen nicht geben. Sie will jedoch anstoßen, sich dieser Problematik zu stellen. Wir sind alle Betroffene!

 30 Künstler aus dem Münsterland

 z.T. auch aus dem Ruhrgebiet haben dazu beigetragen: Bilder gemalt, Skizzen und Karikaturen gezeichnet, Stahlstandbilder geschweißt, Objekte hergestellt. Diese sind auszugsweise (von jedem Künstler nur ein Exponat) in diesem Katalog abgebildet (ab Seite 7).

Zwischendurch ist Lyrik und Prosa - zu diesem Thema geschrieben - zu lesen (Seite 9, 13, 23, 27).

Zu erwähnen sind auch Künstler, die sich musikalisch dem Thema Desertion näherten (Seite 41 f).

Auf den Seiten 28 u. 29 werden zwei Diskussionsbeiträge einandergegenübergestellt: die Meinung eines Offiziers der Bundeswehr zur Desertion und ein Gedicht von Hanns-Dieter Hüsch.

Ein Denkmal für Deserteure? Gedanken dazu auf den Seiten 43 und 44.

Den Abschluss des Katalogs bildet eine Biographie der Mitwirkenden (Seite 45 ff) sowie ein kleiner unvollständiger Literaturüberblick (Seite 50).

 

Noch einmal: Die Künstler und die Organisatoren wünschen sich, dass Sie sich auf das Thema der Ausstellung einlassen können, wollen Ihnen Anregungen und Anstöße geben.

Ob Sie am Ende Ihrer Auseinandersetzung Desertion (weiter?) für Verrat halten? Ob Sie wohlwollendes Verständnis für Deserteure entwickeln? Oder ob Sie sich gar der Meinung von Klaus Bednarz annähern ("Hoffentlich desertieren möglichst viele!"; siehe Rückseite des Katalogs)?

Wir sind gespannt!

Nottuln, im November 1989