Erinnerte Geschichte als Wegweiser

Gedenken zum 9. November 2003 an der Stele für Yvonne Gerson

In Havixbeck

 

Die Nacht vom 9. Auf den 10.November 1938 wurde zur Nacht des Schreckens im deutschen Reich. Deutsche fielen über Deutsche her. Schlägertrupps der Mehrheitspartei und aufgehetzte Jugendliche vergingen sich an Mitbürgern, weil die einer anderen Religionsgemeinschaft angehörten. Sie zerstörten Geschäfte, plünderten Wohnungen und zündeten Gotteshäuser an. Unschuldige kamen zu Tode oder wurden verletzt. Was in jener Nacht begann, endete in dem schrecklichen Versuch, die Juden in ganz Europa auszulöschen. Auch in Havixbeck fand der nationalsozialistische Rassenwahn seine Opfer. Daran erinnert nicht zuletzt diese Stele für Yvonne Gerson, an der wir uns versammelt haben. Yvonne war vier Jahre alt, als ihr Leben in Auschwitz ausgelöscht wurde.

Und die Masse der Deutschen stand damals dabei, sah zu oder schaute weg und schwieg. Auch in Havixbeck. Was mag in ihnen vorgegangen sein? Warum sagten sie nichts? Hätte ein lautes „Nein“ damals etwas verändert?

 

Der 9.November ist für die Deutschen noch ein weiteres historisches Datum. Am 9.November 1989 fiel die Mauer, die Deutschland und die nördliche Welt in zwei feindliche Hälften teilte, die Menschen gleichermaßen einschloss und ausschloss.

In den Monaten davor zogen auch Tausende Menschen durch die nächtlichen Straßen von Leipzig, Dresden, Rostock, Greifswald oder Eisenach. Zuerst waren es nur wenige, die den geschützten Raum der Kirche verließen und sich in die Öffentlichkeit wagten. Die friedlichen Demonstrationen waren nicht ungefährlich. Es lauerte die Polizei und die Staatssicherheit. Das entschlossene „Nein“, „Es ist genug“, „Wir sind das Volk“ leitete die unverhoffte Wende ein. In den Jubel über das Erreichte mischten sich auch Fragen: „Warum haben wir uns das alles so lange gefallen lassen?“ „Warum haben wir so lange mitgemacht?“

 

Daran wollen wir uns jetzt erinnern: an das, was in deutschem Namen geschah. Damit es nie wieder geschehen kann. Denn erinnerte Geschichte will uns den Weg weisen.

Ob wirklich neue Einsichten gewachsen sind nach dem Geschehenen, lässt sich erst an einem neuem Verhalten in der Gegenwart ablesen.

Die Mauer in Deutschland ist gefallen, aber die Mauer um Deutschland herum wird immer höher und perfekter ausgebaut. An den scharf bewachten Festungsmauern Europas kommen jedes Jahr mehr Menschen um als an der ehemaligen Mauer in Deutschland. Und auch innerhalb der Festung Europa werden Menschen mißhandelt und zu Tode „behandelt“. Unschuldige Flüchtlinge werden wie Schwerverbrecher behandelt, werden mit Abschiebung in lebensbedrohliche Umstände konfrontiert. Und das nach Recht und Gesetz wie z.B. nach dem verschärften Asylgesetzen. Wissen wir davon? Was sagen wir dazu?

 

Schließlich möchte ich an dieser Stelle noch an eine weitere unmenschliche Mauer erinnern, die zurzeit der Staat Israel auf palästinensischen Gebieten errichten läßt. Und ich werde sehr nachdenklich, wenn ich sehen muß, wie die Nachkommen von einst brutal Ausgegrenzten nun ihrerseits Menschen ausgrenzen, hinter einer Mauer verschwinden lassen und einsperren. Die meisten von uns werden sich erinnern an die lebendige Schilderung der Folgen der Mauer für die betroffenen Menschen aus dem Munde von Faten Mukarker, einer Palästinenserin aus Beit Jala. Die Menschen in Palästina rufen uns heute auf zu einem weltweiten Protest gegen dieses schändliche Bauwerk. Sollen, ja dürfen wir dazu schweigen? Ich schließe mich an dieser Stelle ausdrücklich diesem Protest an.

 

Im November 2002 hat der Bundesgerichtshof ein wegweisendes Urteil gefällt: Auch wer zu Unrecht schweigt, ist ein Täter. Es ging damals um die Frage, ob Politbüro-Mitglieder mitverantwortlich sind für die Todesschüsse an der DDR-Grenze. Das Gericht entschied: Ja, sie sind es. Schweigen gilt nicht. Auch heute nicht.

 

Wenn ich jetzt einlade, über das Gehörte eine Weile zu schweigen, so ist das kein Widerspruch. Alles hat seine Zeit: das Schweigen hat seine Zeit, und das Reden hat seine Zeit. Zu beidem gibt der Initiativkreis „Kerzen gegen Gewalt“ jeden Montagabend Gelegenheit.

Bevor wir uns zu Wort melden und Einmischen, ist es gut in uns hinein zu hören.

Was ich hören könnte: Das Unfaßbare, das Schreckliche ist auch in mir! Die mit Händen aus Steinen errichteten Mauern entstehen in der Regel vorher in den Köpfen.

Was ich spüren könnte: Mein Verbundensein mit den Opfern von Gewalt. Jeder Gewaltübergriff ist ein Übergriff auf meine Leben, auf meine Freiheit!

Und wenn wir immer wieder Lichter anzünden, so möchten sie Licht in die Dunkelheit bringen. Sie sollen ein Zeichen unserer Hoffnung auf Veränderung, auf Einsicht und Vernunft gegenüber Gewalt sein. Schließlich möchten sie Zeichen unserer Wachsamkeit bleiben.

 

Wenn wir zu hoffen aufhören, kommt, was wir befürchten, bestimmt.

(Christa Wulf)

 

 

 

Franz-Roger Reinhard