"Überzeugungstäter', ..." Auszüge - als Leseprobe - der Autobiographie "Damit bin ich noch längst nicht fertig" von Ignatz Bubis:

 

"Mein Vater und ich wurden von der ersten Deportation verschont, doch vor allem für ihn war es ein sehr knappes Entkommen. Zur gleichen Zeit, als die Juden auf dem Marktplatz (in Deblin) zusammengetrieben wurden, wurde jeder, der sich in der Krankenstube des Ghettos aufhielt, erschossen - nicht nur die Patienten, sondern auch die Betreuer und Pfleger. Mein Vater, der dort in der Verwaltung arbeitete, war glücklicherweise gerade nicht dort, weil er - wie an jedem Tag - die Mittagspause zu Hause verbrachte. Der Leiter des Postamtes wußte von der geplanten Deportation und sagte mir, ich solle unbedingt in der Post bleiben. Ich lief trotzdem zum Sammelplatz - und sah dort meinen Vater in der Gruppe stehen, die zum Abtransport bestimmt war! Er trug noch die Armbinde der Krankenstube, ohne zu ahnen, daß dieses Abzeichen ihn dem sicheren Tod auslieferte. Es gelang mir, ihn an der Hand zu nehmen, ihn unbemerkt ein paar Schritte beiseite zu führen und ihm rasch eine meiner Postboten-Armbinden umzubinden. Ich hatte immer eine Reservebinde bei mir. So dachte die SS, er sei ein Offizieller, und sie ließ ihn zurück. Damit rettete ich meinem Vater wahrscheinlich das Leben. Leider nur für ein paar Monate ...

Als besonders unangenehm empfinde ich es, wenn manche Leute versuchen, jedes grausame Detail aus mir herauszuquetschen, und mich fragen, als ginge es nur um ein interessantes Erlebnis von mir und eine kriminalistische Beschreibung eines Verbrechens. Es hat etwas Sensationelles und Voyeuristisches, wenn mich die Fragenden - zwar mit Anteilnahme - dazu zu bringen versuchen, alle Einzelheiten zu beschreiben, und sich darauf stürzen. weil sie glauben, damit ein interessantes Interview zu bekommen... Manchmal steht hinter solchen Fragen wirkliches Mitgefühl, aber auch dann fällt es mir schwer, darüber zu sprechen. Bei allem Verständnis für zumindest ernstgemeinte Anteilnahme merke ich doch, wie wenig Sensiblität die meisten Menschen für uns Überlebende aufbringen und wohn auch nur aufbringen können. So etwas ärgert mich und macht mich traurig...

Bundeskanzler Kohl lernte ich 1990 persönlich kennen. An diesem Gespräch nahm auf Regierungsseite auch Wolfgang Schäuble, der damalige Innenminister, teil, während für den Zentralrat Heinz Galinski, Max Willner, der damalige Generalsekretär Micha Guttmann und ich gekommen waren. Bei diesem Gespräch habe ich einen ganz anderen Eindruck vom Bundeskanzler gewonnen, als ich ihn dis dahin hatte. Er hat viel mehr Verständnis für die Situation der Schwachen in der Gesellschaft, als gemeinhin angenommen wird, und ich halte Helmut Kohl für historisch viel sensibler als die meisten anderen Politiker...

Immer wieder bin ich in den vergangenen Jahren gefragt worden, wie ich mit all den vielen Terminen, den Reisen kreuz und quer durch Deutschland und neuerdings durch Europa und Amerika, dem auf Monate hin ausgebuchten Terminkalender sowie den ewig klingelnden Telefonen zurecht komme und woher ich die Energie dafür nehme. Wenn damit gemeint ist, ob mir nicht so etwas wie 'Freizeit' fehlt, fällt mir die Antwort nicht schwer: Ich empfinde meine Aufgabe nicht als 'Last', trotz allem. Eher das Gegenteil ist der Fall; jede halbe Stunde Leerzeit kommt mir als reine Vergeudung vor und macht mich nervös. Meine Arbeit war immer gleichzeitig auch mein Hobby, das gilt sowohl für mein Unternehmen als auch für mein Engagement in der Jüdischen Gemeinde und im Zentralrat... Diese Rastlosigkeit rührt vielleicht einfach daher, daß ich das, was ich zu kritisieren habe oder was ich gut finde, anderen gern vermitteln  will. In diesem Sinne bin ich ein '